Milchquarz

Was ist das für eine Krankheit, die sich derart verbreitet, dass wir bevorzugt solche Namen geben, die eigentlich etwas anderes bezeichnen? Sind wir so abhängig von einigen wenigen Begriffen? Haben wir so wenig Phantasie? Ich möchte ein Beispiel geben: Milch. Milch ist überall. Milchschorf, Wolfsmilch, Milchfleckfalter, Milchfleckdistel, Milchweiße Porenflechte, Liebfrauenmilch, Milchapfel, Milchzahn, Sonnemilch, Milchglas, Milchfisch, Milchschwamm, Milchlinge, Milchnatter, Milchstern, Milchorangenbaum, Milchmädchen (ganz schlimm!), Milchstraße, Milchuhu, Kalkmilch und Milchquarz. Das im Hinduismus evozierte Quirlen des Milchozeans, es hat sich in unserer Welt versprachlicht; es gibt kein Land, in dem nur Honig fließt. Auch wenn ich den Milchquarz in meiner Hand just am Ursprung eines Flusses, nämlich der Quelle der Temnitz fand, möchte ich mich gar nicht auf sich aufdrängende Metaphern einlassen. Diese Quelle ist kein Säugetier, nein. Dieser Quarz entspringt nicht mit dem Saft des Flusses, seine Farbe ist nicht Ausdruck eines Beginns, sondern einer Gelebtheit. Seine Reinheit ist nur Schein. Seine Jugend hunderttausende Jahre vergangen. Seine Unschuld nur naive Projektion jener, die sie selbst verloren haben. Und doch ist die Ähnlichkeit doch das erste, was aus mir schießt, wenn ich den Stein betrachte: Er sieht ja aus wie…das erinnert mich an…So erging es auch dem Mineralogen, der den Stein als erster entdeckte. Er schrieb von fetter Milch, die mit Wasser aufgespühlt und nicht gut vermengt wurde. Ich möchte den Versuch wagen und an etwas anderes denken, wenn ich den Stein sehe. Zum Beispiel an den bewölkten Himmel regenloser Tage, wenn die Atmosphäre sich drückend über uns stülpt, ohne dass man auch nur auf einen Tropfen hoffen könnte, weil all die Energie, all das Wasser die Wolken im Inneren verkrustet hat. Oder erinnert er mich nicht an die mürbe Gleichgültigkeit meiner zahllosen Festplatten, auf denen sich Dateien türmen, die sich alle zu einem einzigen Schwulst, einem Konglomerat, um beim Quarz zu bleiben, verdichten, das ich weder durchdringen kann noch möchte, ein gleichgültiges Weißgrau eben, die Farbe der Technologie, die uns erschlaffen lässt? Nein, jetzt weiß ich es: Der Milchquarz ist ein Sterbeblick. Er gleicht dem alles trübenden Schleier, der sich vor die Augen derer schiebt, die nicht mehr ganz hier, aber auch noch nicht ganz gegangen sind. Ein Glas, durch das die Lebenden in den Hades blicken, ein bisschen wie die speziellen Papiersonnenbrillen, die man vor einer Sonnenfinsternis verteilt, damit die Menschen nicht erblinden vor lauter Schaulust. Wenn ich sterbe, soll man mir einen solchen Stein auf die Augenlider legen. Vielleicht kann man dieses Glas von beiden Seiten durchblicken.

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