In Arkadien 4

Am nächsten Morgen war ich sehr müde und wirr, mir schwirrte der Kopf.
In der Nacht hatten mich die Sirenen geweckt. Ich hatte sehr gespannt im violetten Licht gelegen und das Abschwellen der Töne erwartet, die ich noch aus meiner Kindheit kannte; wie sie über eine sehr hügelige Landschaft, auf die vereinzelten Dörfer zwischen Waldflächen verteilt, Druckwellen um sich ausbreiteten, wie Tropfen, die in ein ruhiges Wasser fallen, sich überlagern und dann irgendwo versinken. In der Schule hatte man uns noch die Bedeutung der Signale gelehrt: Dass der 15 Sekunden anhaltende und dann abschwellende Ton einen Feuerwehreinsatz ankündigt, dass ein fortlaufender an und abschwellender Ton eine allgemeine Gefahr ankündigt, oder einen Luftangriff im Kriegsfall; dass Fenster und Türen geschlossen werden sollen und man selbst sich in den Keller begeben. Dort sollen Vorräte für 5 – 10 Tage lagern.
Setzt aber das An- und Abschwellen nach 15 Sekunden aus und setzt es anschließend erneut ein, handelt es sich um einen ABC-Angriff (Atomar, Biologisch, Chemisch). Atemschutzmasken, Bleiwände, Jod. Von den Sirenen aus war das ganze Dorf auch erfüllt mit dem Bellen der Hunde.

Während ich mir mit geschwollenen Augen und kratzendem Hals einen Kaffee machte, fantasierte ich ein wenig vor mich hin, dass Hesiod mit Werke und Tage im weitesten Sinn auch Nature Writing begründet habe, war es doch nach der mythischen Begründung, wieso wir zur Arbeit gezwungen sind, eine Art Bauernkalender, der über die zyklischen und wiederkehrenden Abläufe des Jahres Aufschluss gab. Ich goss Wasser in die Aluminiumkanne, auf das vorgemahlene fairtrade Kaffeepulver, sah zu, wie sich Blasen bildeten und der Schaum obenauf immer heller wurde. Ich sog den Geruch ein, der davon aufstieg und mir ein wenig Aufregung ins Herz pochte. Ewige Wiederkehr der Jahre aus dem Geist des Gedärm, also Hunger, also Schlaf, also Abtrieb.
Ich ging an den Tisch, versuchte zu lesen, wälzte mich aber in Gedanken um die Frage, was für Bücher in solchen Fällen überhaupt sinnvoll oder nützlich, also welche in einem Rucksack mitzunehmen wären, also im Fall einer Katastrophe, die mit einem Ausfall der Elektronik einherging, die mit der Frage einherging, wie und worüber man sich informieren sollte und so weiter – im Fall einer Katastrophe, bei der ich nicht einschätzen könnte, was mit den Atomkraftwerken geschehen würde; wobei ich von einer Reihe von Sicherungssystemen und manuellen Mediatoren ausgehe – im Fall einer Katastrophe, die einen vorindustriellen Zustand herstellte, konnte ich mich wieder nicht konzentrieren und war, fiel mir auf, anfällig für das Denken in Halbsätzen, das vom Kaffee noch angetrieben wurde. Die Vorstellung einer plötzlichen und allumfassenden Katastrophe, verbunden mit dem Verfall in archaische Zustände, bis hin zum Kannibalismus, war letztlich ähnlich mythisch und sozusagen kindisch, wie der Glaube an eine plötzliche Erlösung, eine plötzliche Revolution oder einen Umbruch, bzw. die Reform eines Schulwesens, das seine eigenen Voraussetzungen überwunden hat.

Ein Gartenlexikon, ein Heilkräuterbuch und andere Ratgeber zur Agrikultur standen im Bücherregal meiner Unterkunft.

Ich holte das Kräuterbuch, nahm mein Journalheft und stieg die Treppe hinab in den Hof. Als das mit Corona losging vor ein paar Jahren, als die ersten Bilder bei uns ankamen, von den Militär-Lastwägen, die Leichen aus einer italienischen Stadt transportierten, hatte ich mich ganze Wochen und vielleicht Monate lang nicht richtig konzentrieren können. Jetzt geht es los, dachte ich. Zur selben Zeit launchte auch Space-X, ich ging an einem Abend spazieren, sah in den Himmel und dachte kurz, ich würde verrückt werden, als ich einen Satelliten nach dem anderen hinter der Häuserwand des Universitätsbaus auftauchen sah. Am Kiosk – der als einziges offen war – fragte ich jemanden, ob er das auch sehe. Er lachte und versicherte mir, dass ich nicht verrückt werde. Er wisse auch nicht was das sei. Aber es interessierte ihn auch nicht weiter, und er wandte sich ab, was mir unbegreiflich war.
Im Internet fand ich zunächst nur UFO-Meldungen, dann irgendwo den Hinweis auf Elon Musk. Es war die erste Amtszeit unter Trump und die letzte unter Merkel.

Der Hund im Hof interessierte sich sehr für den Fußball, der dort lag. Ich schoss ein paar Mal, aber merkte gleich, dass er viel mehr Erfahrung hatte und besser darin war als ich, dass er den Ball aus der Luft fangen konnte oder dort nach ihm schnappen, wo er auf dem Boden aufschlug. Merz und die CDU waren gerade dabei die Wehrpflicht aufzutauen, die Von der Leyen und die CDU eingefroren haben und überall erodierte die demokratische Ordnung.

Als einer der letzten hatte ich noch eine Begründung für meine Wehrpflichtverweigerung schreiben müssen, bzw. mir einen Vordruck aus dem Internet holen. Und so sehr ich hinter meiner Entscheidung für den Zivildienst stehe, weiß ich auch, dass es eine ganz klare Milieufrage war, was bedeutet, dass ich es vielleicht anders gemacht und gedacht hätte und auch heute anders denken würde, wäre ich in einer anderen sozialen Schicht aufgewachsen. Sodass jetzt, mit allem was passiert, mir dieser Wissensmangel über den gesamten Militärkomplex, sei es über Abzeichen und Hierarchien, übers Biwakieren, über Gewehre, Landminen und so weiter, auf einer ganz irrationalen Ebene, Angst in Stichworten und Halbsätzen einjagt.
Das geht so weit, dass ich manchmal froh bin, mir zumindest basales und implizites Wissen über Waffen und Kriegslogik aus Videospielen angeeignet zu haben. Aber eben nicht um jemanden anzugreifen, sondern um dem ganzen nicht in völliger Unwissenheit gegenüberzustehen und dazu gezwungen zu sein, mich komplett auf andere Leute zu verlassen und einer Willkür von Menschen ausgeliefert zu sein, die sich eben doch für eine militärische Karriere entschieden haben, höchstwahrscheinlich zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben, in dem sie sich ihre Gewissenserklärung eher aus dem Internet holten, denn aus dem Reflektieren ihrer Anschauungen oder Milieuzugehörigkeiten. Was wiederum eine Frage der Milieuzugehörigkeit war. Eine Mauer umgibt den Garten Eden, Wächter stehen darauf, Zombies fluten an die Phalanx der 90er Jahre und so weiter.

Ich setzte mich an den Holztisch im Garten, sah mich ein wenig um, schrieb ein paar Seiten vor mich hin, kam aber nur zu wenig Brauchbarem. Mit den Jahren habe ich eine genügsame Haltung dazu entwickelt, ich zwinge keine Sätze mehr auf Papier, versuche ihnen nichts zu befehlen, ich lasse Worte einzeln und unzusammenhängend erscheinen und sich dann zu einem Bild zusammenzufügen oder nicht. Mit den Jahren habe ich den Eindruck gewonnen, dass diese Methode viel angebrachter ist, eine vom Informationsüberfluss fragmentierte Zeit abzubilden, während klassische Prosa einen Zusammenhang behauptet. Was an sich nicht falsch war, aber die Identitätsfrage neu stellte, weil es ja eine Frage war, auf welcher Ebene es ein Abbildungsverhältnis in Sprache überhaupt geben konnte, oder inwiefern man letztlich mit Ideen arbeitete – wodurch die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Inhalt zentral wurde. Ich fragte mich, was das dann bedeutete, wenn man eine Zeit nur noch in Halbsätzen adäquat abbilden konnte, und aus welchem geistigen Zustand dieser Modus erwuchs.

Die auf Corona folgenden Monate und Jahre, in der sich der Schrecken normalisierte … Dunkelheit und Nacht steigen (Erebos und Nyx) in der Theogonie aus dem Chaos auf:
Doomscrolling zwischen überlasteten Krankenhäusern, Triage-Situationen, Lockdowns; die Maskenaffäre Spahn; das große Truppenmanöver De-Fender 20 kurz vor dem Ausbruch; Doomscrolling zwischen der Angsterzählung über die Gefährlichkeit der Krankheit und der Angsterzählung über die Gefährlichkeit der Impfung und die sich vertiefende Spaltung. Wovon nichts richtig aufgearbeitet werden konnte, weil Ukraine, weil Israel. Weil wieder Trump, Iran, die Krisen am Balkan und in Südostasien, gestürzte demokratische Regierungen, die durch Militärdiktaturen ersetzt wurden, das Solidarisierungstheater der Fernen-Ostmächte, ein angeblicher belarussischer Angriff auf Polen. Putin geht in sein 27. Jahr, Erdogan in sein 13. Jahr, Jinping in sein 14. Jahr, und so weiter. In Italien Meloni, in Frankreich Le Pen, in Deutschland Weidel … Das große Geflecht umgegraben, die Schlagbäume gefallen, die Meerschlange Échidna, ewig alterslos, gebiert nur vielköpfige Kinder: Kérberos, Hydra, Chímaira „mit drei köpfen – einer ein reissender löwe / der zweite eine ziege der dritte eine breitmäulige schlange“.
Bei all dem gehört es – nicht erst seit den großen kommerziellen KI-Modellen – zur Medienkompetenz, diese (meine) eigene Befangenheit als Filterblase selektiver Wahrnehmung anzuerkennen, in der die realen, die wirklich wirklichen Zusammenhänge letztlich unerschlossen bleiben. Was in der Risikogesellschaft als selbstverständlich gilt, ist das völlige präsent-Sein und betroffen-Sein von Abwesenheiten. Ich saß also im Innenhof, der von allen Seiten umschlossen war, schrieb Einzelworte und Halbsätze aufs Papier und sagte mir, dass die Polyphonie in der Prosa, sich in die Polyvalenz der Worte übersetzte. Ich sah den Spatzen zu, wie sie vom Baum ins Gebüsch und aufs Dach flogen, las Sapphos Fragment 1 und mir kam der Gedanke, dass vielleicht auch in der Sprache gelten konnte, was Platon gesagt hatte, dass auf die allergrößte Freiheit die allergrößte Tyranei folgte – vorausgesetzt, das hatte überhaupt eine Entsprechung in der Realität. Die Sonne schien, ich wünschte mir für einen Moment lang, bei meiner Familie zu sein.

 

Das ausgehöhlte Licht des Flieders

 

Innenschimmer, oder was

 

konkav das Hahngeschrei

 

scheint Weckruf im Bellen

 

bei Nacht aufwallt ein Stahlgeschlänge.

 

Hörst du? Es brennt

 

wieder.

 

 

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