Zum Flanieren zwischen Jetzt und Antike / öffnete ich die Augen / sah zum Fenster. / Im Zimmer herrschte noch Dunkelheit. Ein Hahn krähte sich / ununterbrochen in den Tag. / Ein Spalt Licht schnitt in den Schatten. / Durch ihn konnte ich die große Kastanie im Hof sehen / der über den Esstischen stand.
Noch im Liegen und nur halbwach las ich die folgende Passage bei Hesiod – über den Ablauf der Zeitalter bis zum Aufkommen des Menschen:
„Als goldenes schufen zuerst die Unsterblichen, die im olympischen Haus wohnen, das Geschlecht der redenden Menschen. Diese lebten unter Kronos, der im Himmel als König herrschte, führten ihr Leben wie Götter, hatten leidlosen Sinn und blieben frei von Not und Jammer; nicht drückte sie schlimmes Alter, sie blieben sich immer gleich an Füßen und Händen, lebten heiter in Freuden und frei von jeglichem Übel und starben wie von Schlaf übermannt. Herrlich war ihnen alles, von selsbt trug ihnen die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle. Sie aber taten ihre Feldarbeit nach Gefallen und gemächlich, und waren mit den Gütern gesegnet [reich an Herden und lieb den seligen Göttern].“
Für jedes der folgenden Geschlechter wird das Leben schwerer sein, aus unterschiedlichen Gründen: verbunden mit mehr Arbeit, Hunger, Kälte, Zwietracht. Im silbernen Geschlecht konnten sie „von frevlerischer Gewalt untereinander nicht lassen, wollten auch weder Unsterbliche ehren noch am heiligen Herd der Seligen opfern“.
Ich stand auf. Draußen regnete es noch. Aber in einiger Entfernung konnte ich schon die Sonne durchkommen sehen. Etwas erhöht, im ersten Stock des Seitengebäudes liegend, hatte ich einen guten Blick in den Hof, in dem ein Hund sich herumtrieb. Über den Dächern, jenseits der Gebäude konnte ich die Spitzen großer Laubbäume erkennen, im Wind.
Das eherne Geschlecht war geschaffen „aus Eschen, wild und ungestüm; diese vollbrachten leidvolle Werke des Ares und Freveltaten, aßen auch keine Feldfrucht, sondern hatten stahlhart-trotzigen Sinn, die unförmigen … Aus Erz aber waren ihre Waffen, ehern auch ihre Häuser, und Erz war ihr Werkstoff.“
Zu meinem Kaffee aß ich Sushi. Ich setzte mich an den Tisch, wollte zunächst in die Nachrichten schauen, vermied es aber.
Ich fand den Stuhl am Esstisch ein wenig hoch. Ich buckelte mich weiter über den Text und las, bis Eric sich mit dem Vorschlag meldete, mich um 11Uhr30 abzuholen. In Neuruppin sei dann noch Markt.
In welchem Maß war diesem Mythos schon eine Verfallsgeschichte eingeschrieben, die sich über die nächsten Tausend, Zweitausend Jahre so sehr gewandelt hatte, dass sie bei Spengler anlagen konnte.
Der Mythos, mit dem Hesiod noch versucht hatte, eine Erklärung für die zwangsweise leidvolle Existenz des Menschen zu liefern, wird bei Platon einige Jahrhunderte später schon umgewendet. Die Frage nach dem besten, dem gesunden Staat rückte ins Zentrum, die Wächter wurden eine hohe Kaste. Der Hang in Richtung des Idealen wird manifest und damit wohl wenigstens ansatzweise auch der Drang nach den primitiven, also kindlichen Sehnsüchten, die in einer lichteren Philosophie keinen so hohen Platz hätten, dachte ich. Man kann vielleicht jede staatsromantische Utopie daraufhin abklopfen, wie sehr sie verspricht die einzelnen Menschen in den Zustand der Kindheit zurückzuversetzen, oder wie Dostojewski es im Traum eines lächerlichen Menschen beschreibt: „Diese Kinder der Sonne, diese Kinder ihrer Sonne, o wie schön waren sie! Niemals hatte ich auf unserer Erde eine solche Schönheit beim Menschen gesehen. Höchstens bei unseren Kindern in ihren ersten Lebensjahren könnte man einen entfernten, wiewohl nur schwachen Schimmer dieser Schönheit finden. Die Augen dieser glücklichen Menschen leuchteten in klarem Glanze.“
Wir gingen über den Markt. Wir waren offensichtlich spät dran, denn zwischen den Buden waren die Abstände schon groß und in den Lücken blieben eher Ahnungen zurück, von der üppigen Auswahl an der ich mich hätte bedienen können, hätte ich nicht so lang Hesiod gelesen, der wohl 700 Jahre vor Chr. gelebt hat. Ich kaufte eine Schale Taboulé, Frischkäse mit Feigen, Fladenbrot. Weiter hinten kaufte ich eine Pfeffersalami und noch ein wenig weiter fünf Äpfel für mein Frühstück, das immer aus Joghurt, verschiedenen Nüssen und Haferflocken bestand. In zwei großen Kisten lagen die Falten und Windungen von Pfifferlingen, schwarze Erde hatte sich hineingekrümelt. Ob es denn schon die Zeit für Pilze sei, fragten wir uns. Aber mit ein wenig Aufmerksamkeit fiel uns auf, dass es ungewöhnlich feucht war und warm war und eigentlich ideal für Pilze.
Während wir weiter durch die Stadt spazierten, fiel mir ein, dass ich im Spektrum der Wissenschaft von einem Experiment gelesen hatte: Man habe einen Pilz zu Hilfe genommen das Ubahnnetz in Tokio zu verbessern. Auf einer Karte besetzten Forscher die verschiedenen Verkehrszentren mit unterschiedlich großen Haferflocken, gaben einen Pilz dazu und beobachteten welche Verbindungen das Mycel dann zwischen den Punkten herstellte. Das Netzwerk ähnelte in großen Teilen nicht nur dem tatsächlichen U-Bahnnetz, sondern war effizienter als das menschliche. Überhaupt, dachte ich, ist der Pilz samt Mycel in den letzten Jahrzehnten in seiner intellektuellen Hierarchie mächtig aufgestiegen, hatte sich auf dem Boden der marxistischen Psychologie von Deleuze/Guattari, mit den Netzwerk-Theorien, den globalisierten Wirtschaftsnetzen und -geflechten und der Entstehung und Ausbreitung des Internets zu einer Art postmodernen Ontologie ausgewachsen, die die unerwartetsten Früchte trug.
An den Straßenlaternen hingen Wahlplakate. Wir erreichten den Neuruppiner See und die dazugehörige Fontane-Therme, in der ein Saunaabend von vier Stunden etwa 95 Euro kostet.
Die berühmten Bäder in Baiae bei Rom seien immer ein Symbol für die Dekadenz des Römischen Reiches gewesen. Giovanni Pontano hat ca. 1490 den Ort in Elfsilbern besungen; dieses Versmaß ist zuerst – in einer eigenen Variante – bei Sappho belegt, findet sich dann bei Kallimachos wieder, jenem großen Bibliothekar in Alexandria, der in der Umbruchzeit des Hellenismus, etwa 270 vor Chr. schrieb und der angeblich der größte Einfluss auf die Neoteriker gewesen sein soll; also Catull und so weiter, etwa 50 vor Christus, wozu mir, während wir vorbei an der Therme, und zurück in die schiefe Altstadt gingen, Wikipedia erklärte:
„Im Gegensatz zu anderen Schriftstellern dieser Zeit standen die Neoteriker der Politik kritisch oder desinteressiert gegenüber. Statt des Großen und Erhabenen trat bei ihnen das Kleine, das Persönliche und scheinbar Unbedeutende in den Vordergrund. Ihre Gedichte handeln vom Dichter selbst und seinen Gefühlen, von Freundschaft, Liebe und Erotik, aber auch gelehrte Stoffe werden in Nachahmung des Kallimachos dichterisch behandelt. Hintergrund für diese Anschauung war der zunehmende Verfall der römischen Republik, der die Möglichkeiten für gesellschaftliches Engagement erheblich einschränkte und in weiten Kreisen der Oberschicht einen Rückzug ins Privatleben zur Folge hatte. Dies wurde noch bestärkt durch den Epikureismus, der gleichzeitig in Mode kam und die Neoteriker nachhaltig prägte.“ Das große und größtenteils verlorene Ursprungs-Gedicht Aitia von Kallimachos beginnt anscheinend damit, wie er „im Traum am Helikon die Musen befragt und damit also den Beginn von Hesiods Theogonie variiert“.
Mir wurde klar, dass ich für meine Arbeit natürlich auch die Theogonie brauchte und zwar in einer neuen und der Zeit angemessenen Übersetzung und Ausgabe ,und nicht in einer dieser schrecklichen Voß-Versionen, die ja in ihrer Graecomanie völlig unverständlich sind und mich in diesem Moment an den Channel einer Frau erinnerten, deren Programm darin bestand, generische deutsche Unterhaltungen wörtlich ins Englische zu übersetzen. Eric erzählte mir viel von der Geschichte des Ortes und ich war beeindruckt, wie gut er über alles Bescheid wusste und sich auskannte, aber ich konnte nicht folgen und schämte mich ein wenig dafür.
Wir kamen zurück auf die Einkaufsstraße von Neuruppin. Ich sah mir die Fassaden an, wie frisch gestrichen alles war. Ich sah kaum Graffiti, die Straßen sauber. Eric erzählte, dass es etwa 1780 einen großen Brand in Neuruppin gegeben habe. Große Teile der Stadt seien zerstört und anschließend im klassizistischen Stil neu aufgebaut worden, also gerade der Zeit, die sich ab vom Rokoko und Barock und hin zu klassischen Antike wandte. Daher stamme auch die regelmäßige Form und Planung der Straßen. Wir sahen einige Häuser, deren Fachwerke noch unregelmäßig und für mein Empfinden eine Erleichterung waren; rudimentäres Sprachspiel sozusagen in der brachialen Symmetrie des Idealismus.
Wir betraten kurz darauf den Teppich der Fontane Buchhandlung.