Jahreszeiten (Mehrzahl) und Wechsel

Mein Aufenthalt im Amt Temnitz endet nicht mit dem Sommer. Den Jahreszeitenwechsel kann ich gerade noch miterleben. Der Wind pfeift in anderen Tonhöhen, das Laub färbt sich in neuen alten Farben, der Regen nähert sich und tropft in den Nacken so wie die Kälte in die Fingerspitzen kriecht, und doch: Die Sonne strahlt in den Oktober hinein, als gehorche sie keinem Kalender. Es ist ein sonniger Oktober; es ist ein warmer Herbstanfang. Aber es ist nichtsdestotrotz ein Herbstanfang.

Und diese klirrende Luft, diese warm-wechselnden Blätterfarben, dieser Umschwung, der über Nacht und von jetzt auf gleich kommt – das hat schon so manchen zu literarischen Zeilen inspiriert.

„Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“, sinniert etwa Rainer Maria Rilke bekanntermaßen, und F. Scott Fitzgerald schreibt: “Life starts all over again when it gets crisp in the fall.”

Ich nehme mir halb vertrocknete, an den Seiten eingerollte, rote und gelbe Blätter mit auf mein Zimmer, ohne zu wissen warum. Als würde ich am Strand Muscheln sammeln.

Ich will mich erinnern. An den Herbstanfang, an das Ende des Sommers, an den Sommer, an drei Monate im Amt Temnitz, an Marktbesuche, Badeseen, Radtouren, Theaterproben, Spaziergänge, an bunte Blätter, aber auch an das Nicht-Bunte.

Das hier soll kein Abschiedsbrief sein. (Der kommt nämlich auch noch.)

Die Kleeblüten sind braun geworden und die Baumkronen rot, schreibe ich. Wann guckt man sich eigentlich mal so richtig die Kleeblüten an? Und selbst wenn man es tut: Wann kann man wirklich erkennen, wie etwas aufblüht und dann verblüht?

Nature Writing ist eine Frage von Zeit. Schreiben allgemein eigentlich. Wenn in einem Text ein Schmetterling geschildert wird, ist er in Wirklichkeit mit Höchstwahrscheinlichkeit schon weggeflattert. Wenn im Text ein Wind durch die Baumkronen fährt, dann dauert die Beschreibung länger als der Stoß. Zeit stoppen und Zeitlupe erzeugen, ja, das kann ein Text. Das kann ein Blick, wenn man ihn lenkt, richtet und scharf stellt. Und dann sind die unromantisch braunen Kleeblüten auf einmal im Fokus.

Aber auch für das Zeitraffen ist Schreiben gut. Was ist der Satz „Es wird Herbst“ schließlich anderes als die literarische Variante einer filmischen Timelapse?

Und Zeit ist es, die ich hier als temnitzschreiberin bekommen habe. Die Möglichkeit, so viel aufzunehmen, dass es in mir drin immer noch vor- und zurückspult, sich Bilder überlagern und Wortfetzen wiederholen. Dass der geschilderte Schmetterling immer noch flattert. Dass der Wind nicht nur durch Bäume, sondern mir auch durch die Adern fährt. Ein großer Sommer, ja, und ein crisp fall.

Wie passend, denke ich da, dass man Zeit in Bezug auf Natur ja auch im Plural denkt: Es sind schließlich die Jahreszeiten.

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