Beiträge von Steffen Greiner

Heute nach langwierigen Stunden am Schreibtisch noch auf die Straße nach Walsleben gemacht, die Sonne bereits niedrig, die Dämmerung sich bereits ankündigend. Überraschend viel Autoverkehr entlang des Bahndamms, immer wieder ausweichen aufs Grün mit dem Rad. Auch eine Hagebuttensammlerin unterwegs mit Warnweste und zwei Menschen mit Zigarette am Straßenrand mit Blick am den Katerbower See. Walsleben schleicht sich wie immer an und aus, mühsam der Weg über die Autobahnbrücke und die Siedlung am Waldrand, ehe das Dorf sich kurz wie ein Dorf anfühlt, Kneipe, Kirche, Konsum, Feuerwehr und Storchennest. Zum Ende hin wieder neue Häuser, wie überall, eines mit Portikus, das allein die Fahne der Geschmacklosigkeit kurz nach der Jahrtausendwende hochhält. Meist kommen sie in Rudeln, doch dafür ist Walsleben einfach zu klein.

Kurz über die freie Straße dann zum kleinen Rundlingsdorf Paalzow. Kann sich nicht entscheiden, ob es nun offen oder abgeschlossen sein will. Struktur gleich einer Träne, die die Kurve der Landstraße zur Temnitz hin hinunterrinnt. Fast übersieht man die idyllische Kreissetzung mit der Erhebung in ihrer Mitte, unschlüssig dennoch, steht man an der Kurve, ob man eintreten darf. Wie Barrikaden die schweren orangenen Baugeräte am Eingang, sie leuchten sie wie Feuer um die Wette mit der Backsteinwand. Dabei machen sie doch Wege, keine Mauern. Der Asphaltfertiger wirkt monströs wie der Drache, der den Schatz behütet, aber stellt doch Zugang her. Mich lässt er eintreten.

Paalzow beobachtet mich. Die Hunde, die hinter den Zäunen lauern, mehr noch aber die Menschen. Was der da macht, und ich frag mich das ja auch. In der Mitte des Rundlings mit seiner handvoll Häuser ein kleiner, flacher Hügel, umrunden will ich ihn doch, da stand, lese ich am Eingang zum Dorfkern, die Kirche, bis im November 1972 der Blitz einschlug und der Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert abgetragen werden musste. Der Hügel auf dem sie stand, umgeben von Linden, ist noch gut zu erkennen, ein Fremdkörper im Dorf, ein Einbrechen, vielleicht aber auch umgekehrt, ein Behüten. Was bewacht Paalzow, was ich nicht sehen darf?

Die Häuser haben Augen, weil die Hügel ausgewandert sind, vermutlich auch nach Westen. Ich lege mein Rad ab an der Bank hinter den Glascontainern und steige auf die Erhebung. Die Hunde bellen. Vielleicht sogar die Vorhänge, die sich leicht verschieben. Der Blick aus dem vorbeifahrenden Auto. Das Haus, das wirkt, als wäre sein Eingang eine Höhle, tief hinter die Fassade gesetzt. Das Haus mit dem Kopf am Türsturz, ein Mann mit Bart, Jesus oder ein Prophet? Die Sonne legt sich schon ins Gold. Steine, wo wohl der Chor. Die Unebenheit des Geländes auf der Erhöhung. Ewige Frage, was darin und darunter liegt. Hinter den Höfen eine Straße, der ich nicht folge.

Ich folge einer anderen, vorbei wieder am Haus mit den Jagdsymbolen, Hirsch und Eber. Ein Pferdehof, ein Vater mit zwei kleinen Kindern, rauchend ignoriert er mich. Der Weg raus aus dem Dorf sandig. Vor mir, hinter den Feldern, deutet sich tatsächlich wieder ein Wald an. Doch ich stecke fest. Die Strohballen und die Quader hier aufgeschichtet wie Hünengräber, als hätte die Riesenschlacht bei Netzeband eben hier stattgefunden, als wäre die Architektur der Landwirtschaft, die hinter Plastikplanen rottet, eine Hünen-, eine Teufelsmauer. Und auf dem Acker tatsächlich, hoch türmen sich die Quader auf, zerfetzt schon, fast verrottet. Dahinter ein leerstehender Stall, die Tür offen, die Glasscheiben zerbrochen.

In vielerlei Weise ruft Paalzow eine Kindheitsszene in Erinnerung: In Klarenthal im Wald, hinter der Tannenpflanzung, eine Wiese, auf der wir Schlitten fuhren im Winter und im Sommer herunterstürzten im schnellen Lauf, wo mich unten, mit seinem Traktor zur Mahd fahrend, Bauer G., an dessen Weide der Garten meines Elternhauses grenzte, plötzlich anschrie, was ich dort verloren hätte, und die Angst, er könnte mich fangen, oder meinen Eltern erzählen, wo ich mich mit meinen Freunden herumtrieb. Die Angst, erwischt zu werden beim Betreten von etwas, was ich als zugängliche Natur empfand, was aber offensichtlich längst Teil des genutzten Bodens war, Teil einer Wirtschaft, die ich mit bloßer Anwesenheit zum Absturz hätte bringen können. Illegal Alien der geheimen Weidesystematik.

Ich staune über die späten Blüten der Lichtnelke vor dem Eichenwäldchen.

Entlang des Grabens will ich zur Temnitz ziehen, die nah am Dorf vorbei strömt, nun bereits kanalisiert und gezähmt, immer wieder kreuzt sie die Straße, immer wieder schafft sie nicht, die Logik der Landstraße zu stören, die die Dörfer verbindet und Brücken baut, in deren Betonbett sie sich fügen muss. Ich folge dem Weg aus dem Dorf eingehegt zwischen einer Mauer aus Strohballen und der tiefen Rinne. Eine Kuhherde wendet sich mir zu, als sie mich entlang des Weges kommen sieht. Zwischen den gereihten Ballen ein Generator, der den Elektrozaun speist. Über dem Weg ein Draht, markiert durch Knoten von Absperrband. Ich versuche, mein Rad in der steilen Böschung weiterzuschieben, dann überlege ich, den Zaun zu übersteigen, aber noch immer trabt die Herde, mich wohl verwechselnd mit dem Landwirt, hoffend oder fürchtend. In meinem Ohr schreit der ewige Bauer G., die Angst, erwischt zu werden. Für heute endet mein Weg hier.

Auf Google Maps erkenne ich, dass ich nicht weit entfernt bin von der Mündung des Landwehrgrabens in die Temnitz. Ich fahre zurück und durch den okkulten Kreis der Häuser von Paalzow zur Kreisstraße, die Richtung Gottberg führt. An der Brücke über den Landwehrgraben lege ich mein Fahrrad ab und folge zerbrochenen Panzerplatten.

Der Landwehrgraben von Kränzlin ist Teil der mittelalterlichen Wehranlage der Stadt Neuruppin. Wie überall in Deutschland markiert die Landwehr auch hier in der Flur konkret historische Grenzziehung eher, als dass sie ein reales Hindernis darstellte. Kaum vorstellbar, dass die Truppen der Schweden auf ihrem Zug zur Schlacht bei Wittstock im Dreißigjährigen Krieg, ehe sie Paalzow niederbrannten und das Dorf entvölkerten, hier von diesem Gewässer gebremst wurden. Zu leicht, hier Brücken zu schlagen über die nassen Felder. Heute trennt der Landwehrgraben nur noch Walsleben von Märkisch Linden und Dabergotz von Neuruppin.

Hinderlich ist er vor allem durch seine schlechte Wasserqualität, die die Temnitz belastet. Kaum Sauerstoff transportiert er auf seinem Weg durch die extensive Landwirtschaft. Dafür zu üppig Phosphor, Stickstoff und Chlorid. Fast die Hälfte ihres Weges ist die Temnitz bereits geflossen, wenn der Graben hinter Paalzow mündet, kurz vor einem Wehr. Idyllisches Bild, die beiden breiten Flussbetten ohne Bewegung, wie sich im Wasser der tiefblaue Abendhimmel und die Bäume spiegeln. So selten besucht die Stelle, dass sich am Ufer der Herrenhandschuh und die vergessene Maske, Relikte sicher aus Coronazeit-Jackentaschen, ausnehmen wie mumifiziert, als zerbröselten sie unter dem untersuchenden Kick meiner Schuhspitze.

Gesammelte Merkwürdigkeiten: Über die Staustufe geht es per Brücke, aber dann endet sie in einem verschlossenen Tor. Schwer liegt das Vorhängeschloss auf dem Rost. Dabei ist es, ungewöhnlich für den Ort, eben kein einfaches Industrietor, sondern ein Gartentor, mit Rundung oben und fein gedrehten Speichen. Noch merkwürdiger: Ganz eingefasst ist es schon vom Holz eines Busches, der hinter dem Tor wächst, und, wo das Gitter der Brücke endet, den Durchgang zum Land mit seinem schon kahlen Gestrüpp blockiert, als hätte Jahrzehnte niemand Fuß hineingesetzt. Und was für ein Land das ist!

Denn, der Blick auf die Karte verrät es, ganz umgeben von willkürlich in runden Formen fließenden Wasserläufen liegt es unberührt und verschlossen, eingefasst von der streng begradigten Temnitz in Süd und Südost, vom mutwillig sich von der geometrischen Symmetrie der Drainagegräben absetzenden Gewässer aber in West, Nord und Ost. Verbirgt sich dort in der Landschaft der alte Lauf der Temnitz, dem Fluss nun entzogen, um das Wasser endlich zum Fließen, zum Strömen zu bringen? Als müsste man dem Flüsschen seine Bewegung erst mit schwarzer Pädagogik einimpfen, die endlose Ruhe im Wesen der Dunklen mit dem Spaten austreiben. Oder ist umgekehrt die Insel zu schaffen, die dort nun abgeschlossen und nicht mehr zu betreten ist, der Sinn des Eingriffs gewesen – das verbeulte Herz von Paalzow?

Und was dort wohl liegt und wächst. Bewacht der Busch es in Wahrheit ähnlich aufmerksam wie die Baugeräte den Zugang zum verschwundenen Kirchlein? Paalzow bleibt mir verborgen, wieder einmal.

Auf dem Rückweg zwei Naturwunder: Das satte Pink und Orange des Pfaffenhütchens am Landwehrgraben, so giftig und so anziehend, wie es am Wegesrand anleuchtet gegen die Dämmerung! Und die verwachsenen Eschen auf dem Acker neben der Kreisstraße, zwölf gerade Stämme, wenn meine Zählung stimmt, weisen aus dem dem großen Stumpf nach oben. Daneben Gras, dem man die Feuchte des Bodens ansieht, dahinter nichts und nichts, nur Wiese und Graben, bis weit hinaus nach Gottberg. So fahre ich zurück.

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