Mystagogie I, Bertikow, 9.10.

… sollte eigentlich eine Tour zum Feuchtgebiet Schönberg-Blankenberg werden. Hinweg hellste Sonne, das Moos unter den Kiefern leuchtend, riesige Pilze fand ich, drei große Steinpilze in den Rucksack und die kleinen roten bewundert, Märchenbuch, Fliegenpilze klein und rundlich mit weißen Tupfen, symetrisch verteilt wie die Mayonnaise auf der Tomatenhälfte im Partykochbuch.

Hinter der Temnitzbrücke verlaufen die Wege keiner Logik des Geländes gehorchend, sondern der Logik der Holzwirtschaft. Manche verlaufen schnurgerade, um dann in undurchdringliches Gestrüpp auszulaufen, andere schlagen Haken, keinesfalls sind sie da, wo die Karte mir sagt, dass sie sind. Den einen Weg soll ich nur überqueren, doch findet mein Pfad keine Fortsetzung nach der Kreuzung, da wird jetzt gehegt, ich stehe am Zaun und entscheide mich, dem ausgebauten zu folgen, nach links, vorbei an großen Pfützen, Radfahren wird Arbeit. Fett die Reifenspuren der LKWs für Kronotex durch den schweren Sand, der jetzt satt ist vom Regen der Nacht, fett haben sie den Schlamm zu richtigen Wänden verdichtet, mein Lenken bricht an ihnen wie die Welle am Fels.

Überwiegend waldwirtschaftlich intensiv genutzte Kiefernpflanzungen findet man hier, lese ich in der Beschreibung des Feuchtgebiets. Bäume in Reih und Glied, der Wald als Heer, wie es Elias Canetti beschreibt. Aber zugleich doch viel mehr Wildnis als mancher sogenannte Urwald, kein Mensch, der hier Natur erleben will, da kann sie sich entfalten, wie sich Natur immer entfaltet, um die Bedingungen herum, die andere Natur ihr lässt. Es wuchert einfach, es leuchtet, die Wege in den Wald hinein grüne Lichtschneisen, in deren erhöhter Mitte junge Bäume sich von unten zum Walddach strecken, Eichen und Eschen, sie warten bloß auf Verbiss oder Triumph. Und Pilze, Pilze. Das Feuchtgebiet, sagt Google Maps, ist noch zehn Minuten entfernt.

Aber was heißt schon zehn Minuten, wenn mein innerer Sinn für Richtung so ausgeschaltet ist! Alle Wege erscheinen mir identisch, der Wald, blickt man vom Ornament am Grund nach oben, erscheint mir immergleich, ohne Hinweis, wo ich mich befinde. In Städten finde ich mich immer zurecht, selbst wenn ich sie nie zuvor betrat, und als jemand, der am Waldrand aufwuchs, kann ich auch schnell innere Karte eines Gebiets zeichnen. Aber die Wälder im Ruppiner Land tricksen mich immer wieder aus. Fast zwei Stunden irrte ich im Sommer zwischen Katerbow und Gentzrode: Was der Logik nach dieser Weg oder jener sein müsste, entpuppte sich als sein genaues Gegenteil, und was auf der Karte als stabil durch den Wald geschlagene Straße dargestellt war, ist in der Realität einfach nur ein Stück von Wildschweinen durchpflügter Wiese. Und ähnlich nun auch hier: Als ich das Handy aus der Tasche ziehe, festzustellen – die falsche Richtung eingeschlagen! Zurück gefahren wieder, als ich eben abbog! Und der Himmel zieht zu und ab zwölf schon soll es regnen. Also: Abbruch der Exkursion, an dieser Stelle. Immerhin: Dort verläuft nun eine Straße, die tatsächlich mit dem Rad befahrbar ist, rote, steinige Erde. Und ich sehe, dass der Bertikower See nah ist.

Bertikow ist mir bisher ein Rätsel geblieben. Taucht in Meyers Orts- und Verkehrslexikon des Deutschen Reiches auf, als Vorwerk von Walsleben, und in den Kirchenbüchern von Walsleben ist es auch als Charlottenthal gelistet. Vermutungen, ob Verbindung zu Charlottenhof auf der anderen Seite der Temnitz, und, wichtiger heute, der Autobahn, wären reine Spekulation, und auch, was das Vorwerk mit dem slawischen Namen – das Bertikow in der Uckermark leitet sich von der Siedlung eines Bartik ab, wäre das auch auf dieses Sumpfgebiet übertragbar? – mit dem Rokoko einer Charlotte zu tun haben könnte. Kein Mensch jemals hier, der danach zu fragen wäre.

Wo hat das Vorwerk seine Spuren hinterlassen, welche Gebäude, welche Gewerke waren zugehörig? Im Gelände finde ich keine Spuren. Folge mehrere hundert Meter einem Graben, der wunderschön hellgrün von dichter Wasserlinse bedeckt ist, dahinter eine große Weide, das Gras gemäht und die Mahd zu Ballen. Jetzt, im frühen Herbst, liegen sie überall wie zufällig hingeworfen, doch stets einer Logik folgend, die zwar zuvorderst eine von Landmaschinen ist, sich aber doch in der Harmonie erschließt, mit der sie sich in die Landschaft legen wie Statisten eines großformatigen Historiengemäldes, zu Gruppen sich finden, die die einzelnen ausschließen oder zu sich rufen.

Doch zuerst zum See! Der liegt mir zur Linken. Auf der Karte erkenne ich einen Wasserlauf, der vom stillstehenden grünen Graben abgeht und im See mündet. Doch davon hier nichts zu sehen. Dafür ein Streifen Wiese, der hin zu einer Lichtung zu führen scheint – Vermutung, dort, am Waldrand gegenüber, bereits auf meinem Weg vor einer Stunde gekreuzt zu sein. Mein Rad lasse ich hier liegen, es sinkt sofort in die dichten hohen Gräser und schlingenden Dornensträucher, wird unsichtbar. Der Wald hier ist endlich Laubwald, vor allem Schwarz-Erle, durch einen breiten Streifen Brennesseln trete ich hinein. Der Boden ist fest, es wuchert kahles Holz und giftiges Grün, Farne nun auch zwischen den Nesseln. Ich freue mich, wie unwahrscheinlich, einen krummen Trampelpfad gefunden zu haben, und folge ihm auf der Suche nach dem Gewässer. Google Maps zeigt mich mittlerweile mitten im See stehend, dabei ist doch hier keiner, kann doch hier – das hier ist doch seit Jahrzehnten Wald!

Endlich erahne ich ein großes Stück Himmel, dass eine Lichtung anzeigt, kurz drauf: Meine Füße im Wasser! Zwischen Gräsern, die im Wasser wurzeln, ein Gürtel, der sich noch viele Meter in den See hineinzieht, dort dann Schilf und dann erst, weit entfernt, offenes Gewässer. Auch die anderen Ufer sind eingefasst von Schilf. Das Wasser ist überraschend warm in meinem Schuh. Prächtiger Anblick, eher einer wilden Wiese gleichend als einem See. Ich folge den Pfaden durchs Wasser, bis es mir über die Knöchel schwappt, dann wende ich mich, noch höheren Gräsern folgend, einer Birke zu, im Versuch, an einer anderen Stelle näher ans offene Wasser zu kommen. Das Wetter ist aufgeklart, und das Grün des Waldes, das Blau des Himmels und die Sattheit des Grases – das erste Luftholen seit Beginn dieser Wanderung.

Ich bin ja eigentlich kein guter Nature Writer, weil mir die Lust, vielleicht gar die Fähigkeit zum Innehalten abgeht, drei, vier Stunden nur zu sitzen und wirken lassen und beobachten, ich schreibe nicht gut in der Natur, aber ich schreibe gerne über die Natur, schreibe gerne über was ich sah, immer 30 Tabs zur Recherche offen, Nabu, Wikipedia, ein gescanntes Kirchenbuch, meine Feldnotizen, ich denke schnell, ich springe. Und so bewege ich mich auch durch die Natur, impulsiv und immer in Bewegung, kaum verweilend, immer drehend, aushorchend, noch mehr, noch mehr, noch mehr Eindrücke, in Vorfreude schon auf Heimkehr an den Schreibtisch.

Am neuen Ufer wieder Wellen von Gras, mächtige Büschel, aber doch eine ganz andere Textur: Hier reichen schiefe Erlen ins Wasser hinein, ihre Stämme kratzen an der Wasseroberfläche, als wollten sie hineingreifen, ehe sie doch nach oben wegbiegen. Undurchdringlicher kleiner Erlenbruch, eine Reihe von drei, vier Bäumen schon im Wasser, dann noch einmal eine kleine grüne Insel im Morast, ehe sich der See ganz öffnet.

Zurück zum Fahrrad! Es liegt noch da, treu in den Büschen und Büscheln. Ich schiebe querfeldein zu einem Weg, der sich wieder nur als Wiese herausstellt, nach wenigen Metern. Es ist die merkwürdige Welt zwischen Waldrand und Weide, die ich immer mit etwas fast Antikem assoziiere, ein altehrwürdiges Geheimes, das nicht ganz das Andere aus dem Wald ist, aber die Dörfer auch nur an der Rückseite streifen kann, obwohl es irgendwie dazu gehört. Zwischenzone. Rechts von mir zieht sich der grüne Graben, links der Wald. Erschrecken: Enten fliegen auf, jagen mit schnellem, knallendem Flügelschlag fort von mir. Die Libellen scheinen sich an meiner Präsenz nicht zu stören. Am Waldrand ein krummer Jagdsitz.

Rechts öffnet sich plötzlich, zum großen, weitläufigen Weidetal hin, ein kleiner Übergang zwischen zwei Gräben. Pfosten rechts und links markieren den Privatbesitz, aber ich erkenne – durch Maps, aber auch durch den flachen Streifen im Wiesengrund, den Lauf der Temnitz. Der Himmel ist grau, der Regen wird kommen, ich aber weiß mich nun beinahe in heimischen Gefilden und entschließe mich, dem dunklen Fluss meine Aufwartung zu machen, dessen Namen meine Rolle ja immerhin trägt.

Die Temnitz verläuft hier unprätenziös, sie hat sich nicht tief ins Land gegraben, sondern liegt ebenerdig in ihrer Niederung, und fließt so langsam, dass ich sie begleiten könnte. So unprätenziös verläuft sie, dass sie längst mit dem Land eins geworden ist. Wo beginnt die Temnitz, wo endet die Wiese? Meine Augen sagen: Na dort, wo das dunkle, graue Wasser ist, wo die Brunnenkresse grünt! Wo die Grasbüschel eben enden, wo der Fluss eben anfängt! Aber meine Füße sagen anderes. Schon vier, fünf Meter vor dem Fluss stehe ich im Wasser, das Gras, das in hohen Büscheln steht, trägt mich nicht, sondern sinkt mit meinem Schritt dahin, patschnass meine Schuhe, die Socken schon zum Auswringen, als ich erstmals den Fluss frei vor mir fließen sehe.

Erinnerung an meinen Plan, hier zum Versinken zu arbeiten – einen Tag im Moor stehen, der Nonbinarität des Terrains auf den Grund gehen, im Wortsinne, bald mangels geeignetem Moor in Schlagdistanz aufgegeben. Zählt das hier nun schon? Bin ich im Fluss oder auf der Wiese? Wie ich nun auch unsicher bin: War ich wirklich im See, auch wenn ich im Wald war? Nicht nur Misstrauen dem Kartenwerk gegenüber nun, sondern auch der Natur, die sich meinem inneren Ordnungssystem entzieht. Zurück schnellen Schrittes, in der Hoffnung, so die Physik zu überlisten, das Wasser auszutricksen, vergeblich! Sprünge über Gräser, die trockenen Grund versprechen, enden eine Knielänge tiefer im okkulten Regnum der Temnitz.

Von weitem, fast schade, sie so arrangiert zu sehen am anderen Ufer, gerade in ihrer Tierigkeit rufen sie das Menschgemachte der Landschaft wieder in Erinnerung, beobachten mich Rinder. Ökonomisch komprimiert beisammen auf diesem sich in beide Richtungen entlang der Temnitz endlos ziehenden Wiesengrund. Und ich starre zurück, wohl wissend, dass ich diesseits des Flusses selbst für ihr panisches Trampeln unerreichbar wäre. Aber ach was, sie sind völlig unbeeindruckt, bald wenden sie sich wieder dem Gras zu, das noch dicht und hoch wächst, sie kauen und kauen und blicken bisweilen mit der Trägheit des Wassers herüber. Hinter ihnen weiß ich schon den Weg nach Walsleben, und wenn ich es nicht bewusst ausblende, höre ich auch das vertraute Rauschen der Autobahn.

Ich steige auf mein Rad, finde den Durchlass durch den Stacheldraht, der nun, Schritte nur weiter hoch, auch meine Wiese umzäumt, und suche meinen Weg. Der Regen ist ausgeblieben.

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