Steinnotizen: Bodenkunde

Wenn ich nach Steinen suche, blicke ich zu Boden. Ich gehe, schleiche fast, sozusagen als Antipode zu Heinrich Hoffmanns Hanns Guck-in-die-Luft, mit gebeugtem Nacken versunken in Sand, Wurzelwerk, herumliegenden Samen, vertrocknetem Kot, Zweigen, Weggeworfenem, Gräsern, Fußspuren, Asphalt und Steinen. Ich ignoriere die Wolken und die im Gebüsch raschelnden Rehe. Kaum bemerke ich, wenn mir ein anderer Waldnarr oder auch nur eine zufällig auf diesen Pfaden herumstrolchende Seele entgegenkommt. Ich höre nur meine schlurfenden Schritte, das Kratzen von Sohlen auf Staub, das heißere Kichern von Grashalmen, die meine Waden streicheln. 

Ich spüre wie die Hitze oder Kühle von der Erde aufsteigt und manchmal, wenn es ganz leise ist, kann ich die tapsenden Ameisen hören, die mit beinahe nerviger Unermüdlichkeit diesen Boden bevölkern und bewirtschaften. Es stimmt, manchmal lege ich mich mit einem Ohr auf den Boden, so wie ich das als Kind in Westernfilmen gesehen habe, wenn die Helden auf den Zug warteten. Dann höre ich ein dumpfes Rauschen, ein wenig wie das Meer (vielleicht ist es auch die nahe Autobahn), ein wenig wie das Ende der Zeit. Der Boden allein verlangt all meine Aufmerksamkeit. Die Steine liegen auf ihm wie altes Spielzeug, das unter dem Teppich zum Vorschein kommt. Sie liegen oft so, als hätte sie jemand vergessen. Ich fühle mich wohl unter den Vergessenen. 

Je schneller ich gehe und zu Boden blicke desto weniger kann ich erkennen. Dann verschwimmt alles in einen von Hitze und Wasser gefärbten, beigegrauen, graugrünen See. Die Steine kommen aus dem See unter diesem Boden. Sie wissen selbst nicht, warum sie hier an der frischen Oberfläche gelandet sind. Ihre Reisen sind nicht nachzuzeichnen, sie entsprechen keiner uns bekannten Dramaturgie, sie lassen sich nicht erzählen. Ich habe Menschen kennengelernt, die Steine mit Hämmern zerschlagen und deren Inneres mit Lupen betrachten, die im sich vor ihnen ausbreitenden Sternbild der Minerale ablesen, was mir verschleiert und verborgen so viel näher ist. Diese Menschen haben begonnen, von der unglaublichen Reise der Steine zu erzählen. Allerdings sprechen sie eine Sprache, die ich nicht verstehe. Ich bin viel zu beschränkt, um den Steinen zu folgen.

Die Welt ist eine andere, wenn man auf sie herab schaut. Nach Steinen suchen, heißt auch sich erden. Das ist wichtig, denke ich. Oft habe ich gedacht, dass ich dann am Glücklichsten bin, wenn ich schwebe. Dieses verliebte, ekstatische, enthusiastische, aufgeregte, jauchzende Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Man hebt ab. Dann begegnet man nur verglühenden Meteoriten. Der Fall folgt garantiert und die Steine lehren mich, dass man auf dem Boden die größte Würde entfaltet. Steine liegen, stehen, sitzen, rollen, stecken, hängen, sinken, fallen, schwinden, berühren, wachsen, singen, flüstern, reisen, lachen, lauschen, schweigen, aber sie suchen stets die Erde und den Boden. Die Sichtbarkeit der Schwerkraft in der Mitte eines Steins ist eine der schönsten Harmonien auf diesem Planeten.

Unscheinbar, halb von Dreck bedeckte Formen, die in der plötzlich hinter den Kiefern hervorlugenden Sonne glitzern. Grauschwarze, von Regenwürmern und Moos umgarnte Monster, die von Regen gesäubert gleich einer seltenen Meeresqualle schillern. Matte Klötze, die geheimnisvoll schweigen, obwohl sie bereits von Napoleon in der Hand gehalten wurden. Die Bescheidenheit der Steine, das Auf-dem-Teppich-bleiben unserer Mitbewohner, die uns so viel voraus haben.

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