Unter dem Mikroskop

Der Hunger Mehr-zu-Sehen kann nicht durch regelmäßige Mahlzeiten gestillt werden. Ganz im Gegenteil. Er tritt umso stärker auf, je mehr man sieht. Das ist tragisch, wenn man bedenkt, wie viel es zu sehen gibt. Man müsste zulassen, das Sehen als Rauschen zu verstehen, als endlosen Fluss, den es nicht zu kanalisieren, sondern in dem es zu schwimmen gilt. Nur das ist schwer. Wahrscheinlich haben sich deshalb viele für das Scheuklappenmodell entschieden. Lieber nicht zu viel sehen, beim Bekannten bleiben, das Gesehene sofort einordnen, im Glauben verharren, dass man ja alles gesehen hat, was man zum Leben braucht. Der Mensch, der so sieht, gilt als funktional, effizient, vernünftig. Er ist der erwachsene Mensch, der lebenstüchtige, souveräne, klarsichtige, aber er ist auch der ignorante, oberflächliche, sich stumpf der eigenen Weltsicht verschreibende Mensch. Dieser Mensch geht durch eine Welt, die sich seiner Wahrnehmung anpasst. Er verbringt sein Leben damit, eine Welt zu bauen, die dem entspricht, was er aus ihr filtert. Dieser Mensch ist verloren. Es gibt viele, denen ein solches Sehen widerspricht. Allerdings entscheiden sie sich, die Augen zu verschließen. Diese Menschen bevorzugen die Träume. Sie wandern aus ihren Körpern, halluzinieren sich durch scheinbar Tiefer- oder Höherliegendes, manipulieren ihre Hormone, vergessen sich, verstehen sich in der eigenen Auflösung begriffen. Der Mensch, der sich so dem Sehen verweigert, gilt als organisch, betörend, beseelt, für Schwebendes und Irrlichterndes veranlagt, aber er ist auch blind, selbstbezogen, ohne Sinn für das, was ihn umgibt. Diese Menschen wollen als Geister leben, weil ihnen die Wirklichkeit nicht reicht, entweicht, den blanken Horror einflößt. Es ist arrogant und fatal zu glauben, dass man der Welt entkommen kann. Am Ende sehen diese Menschen nichts, auch sie sind verloren. Manche glauben, schlauer zu sein. Sie sammeln mit unnachgiebigem Fleiß großes Wissen, recherchieren zu jedem Flecken Erde auf dem sie gehen: Eisengehalt, Luftqualität, dort gefloßenes Blut im vergangenen Kriege. Mit diesem Wissen ausgestattet, verlieren diese schlauen Menschen nun die Augen. Sie beginnen zu reden und zu schreiben, zu fabulieren und zu protzen. Sie beweisen und finden in der Welt immer mehr Argumente für ihre Beweise und irgendwann sehen auch sie nichts mehr, manche von ihnen sagen es sogar, sie sagen: Es gibt eigentlich nichts zu sehen. Wir sind gar nicht hier. Auch diese Menschen sind verloren.

Keiner der genannten Menschen ist ein Kind, so viel ist sicher. Aber Kinder werden von diesen Menschen ignoriert, als wären sie Teil der Welt. Sie werden erzogen, gezüchtigt, gegliedert, weggeschickt, übersehen, als Friedensbotschafter missbraucht, in Reagenzgläsern betupft, beschrieben, in amüsierter Überlegenheit betrachtet. Diese Kinder sind verloren. Man gibt ihnen Ferngläser und Lupen und Mikroskope und sagt ihnen: Schau, da ist die Welt. Schau sie dir an. Wenn diese Kinder jemals einen Hunger auf das Sehen hatten, haben sie alsbald eine Magenverstimmung. Was aber wäre dieser Hunger, diese Lust am Sehen außer ein Rauschen, eine Offenheit, eine in sich genügende Quelle, ein, die deutschen Philosophen waren selten hilfreicher, In-der-Welt-Sein? Vor hunderten Jahren haben die Menschen Instrumente erfunden, um mehr zu sehen: Ferngläser, Rohre, Lupen, Teleskope oder Mikroskope. Aber auch diese Instrumente benutzten diese Menschen, um sich mehr Wissen anzueignen, der Welt zu entfliehen oder das Sehen besser einordnen zu können. Man kann es ihnen nicht verübeln, so ein Mensch ist klein und nichtig. Dabei könnte man Schätze erkennen, wenn man zum Beispiel einen Peridotit unter einem Mikroskop betrachtet. Es sind tatsächlich Schatzkarten: Kontinente treiben dort über das Olivinmeer, kollidieren, finden sich in einer beständigen Umwälzung, die sie noch gar nicht verstehen. Man könnte glauben, Wellen zu sehen. Unzählige Farbschichten bebildern klimatische Bedingungen, hier die unsagbare Hitze, eine rot-braune Wüste die den Stein erst Stein werden ließ, dort eine kaum zu glaubende Kühle in einem sanft über die Fläche treibenden Blau. Beide überlappen sich, greifen ineinander wie die sich umschlingenden Liebenden in Pompeji. Auf nur wenigen Millimetern eine Farbenpracht, die ihresgleichen sucht. Ein türkiser Fleck, erdbraune Schatten und das tiefste Blau vergangener Ozeane. Alles auf der Oberfläche dieses Steins ist zerbrechlich. Es gibt Risse, Falten, durch die Haut schimmernde Drusen, in denen sich Kristalle ausbreiten, Schichten auf Schichten. Die Bebilderung der nicht enden wollenden Metamorphose, abertausende Zustände auf einen Millimeter. Man stelle sich vor, dass sich unser ganzes Leben jederzeit auf unseren Gesichtern ablagern würde. Was wären das für Gesichter? Welche Farben würden uns anhaften? Oder wären wir längst verblichen? Ich stelle mir vor, wie in uns Kristalle wachsen. Man könnte sich doch verlieben, wenn einmal hinter den Augen ein Lindackerit hervorflackert oder aus einer offenen Wunde nadeliges Brochantit strömt, als würde eine Tanne ihre Nadeln ausleeren.

Aber zurück zu diesem Stein unter dem Mikroskop. Eine ganze Welt breitet sich auf ihm aus. Was würde erst passieren, wenn ich ihn spaltete und in ihn kröche, mich gegen sein Inneres schmiegte wie die Höhlenforscher Kilometer unter der Erde? Ich mache mich schuldig, wenn ich so schreibe. Dann protze ich und schließe gleichzeitig die Augen. Es müsste eine Art und Weise geben, den Stein unter dem Mikroskop zu beschreiben, nüchtern, aber nicht gelangweilt. Man müsste durch das Sehen ins Träumen kommen, ohne dass sich das Träumen über das Sehen stülpt. Das sind alles Gedanken, die mich weiter vom Stein entfernen. Vielleicht so: Man sieht den Stein und das ist alles. Man berührt ihn nicht, hebt ihn nicht auf und legt ihn schon gar nicht unter ein Mikroskop. Man benennt ihn nicht, dichtet ihm nichts an. Man bringt ihm das gleiche Interesse entgegen wie dem Meer während eines Spaziergangs an der Küste, ja das könnte es sein. Man verliert sich im Stein, aber bleibt ihm fern, fremd sogar. Man akzeptiert, dass der Stein da ist und alles bestimmt. Man respektiert den Stein. Sehen heißt auch respektieren. Es muss auch ohne billige Weisheiten gehen. Wie könnte man mehr sehen, ohne mehr wissen zu wollen, ohne das Sehen zu vergöttern, ohne abzustumpfen? Zunächst einmal müsste man sich entspannen. Wenn man etwas sieht, weil man etwas sehen will, verkrampft man allzu leicht. Das liegt auch daran, dass die menschlichen Augen so grausam verkümmert sind. Es bedarf einer riesigen Anstrengung, um überhaupt etwas zu sehen. Deshalb wurden ja Lupen und Fernrohre erfunden. Deshalb schreien auch immer alle so laut, wenn sie mal etwas gesehen haben. Es kommt selten vor, man will es feiern. Hier, hier, schau, schau. Ich habe etwas gesehen. Man müsste sehen, wie ein Adler, der nicht nach Beute sucht. Aber was weiß man schon über Adler? Vielleicht sehen die Menschen manchmal mit diesem Hunger, der nicht gestillt werden kann, wenn sie verliebt sind. Ich meine eine Liebe, die vor dem Besitz und der Angst kommt. Eine Liebe im Moment ihrer Bewusstwerdung. Eine noch nicht formulierte, noch nicht erkannte, aber erfühlte Liebe. Eine Liebe, die noch zu unbewusst ist, um etwas zu wollen. Eine Liebe, die einen bewohnt wie ein gut versteckter Parasit. Das könnte es sein, aber wie sollte man so einen Stein betrachten? Und gibt es eine solche Liebe oder ist sie nur Literatur, Sehnsuchtsgespinst? Es kommt vor, werden manche sagen. Menschen verlieben sich in Steine, verbringen ihr ganzes Leben mit einem Stein. Aber das ist nur eine verlogene Formulierung dafür, dass sie ihr Leben allein verbringen. Diese Menschen unterscheiden sich zu wenig, von dem, was sie glauben zu sehen. Sie sehen überall sich selbst, sie sind verloren.

Ich möchte ein wenig üben und mache einen Spaziergang. Das Mehr-Sehen muss man lernen, sage ich mir. Manchmal sehe ich nichts. Ich gehe hunderte Meter durch einen Wald und plötzlich bemerke ich, dass ich hunderte Meter gegangen bin und mich an keinen Schritt erinnern kann. Ich müsste zurückblättern und die hunderten Meter noch einmal gehen, so wie ich ganze Kapitel noch einmal lesen muss, weil ich nicht aufmerksam war. Aber so kann man nicht leben! Das Diktat der Aufmerksamkeit unterdrückt alle. So werden die Kinder zu diesen Menschen. Sie werden aufmerksam. Man müsste abmerksam werden können oder nichtmerksam. Es kann beim Mehr-Sehen nicht ums Merken gehen. Dieses Sehen oszilliert unablässig zwischen dem Erinnern und Vergessen, es kennt diese Begriffe gar nicht. Dieses Sehen wäre pure Gegenwärtigkeit, aber ohne Aktualität oder Bewusstwerdung. Es dürfte nirgendwo hinspiegeln, nicht so wie die Feldspate auf dein glitzernden Steinen unter dem Mikroskop, nicht so wie das ermüdende Ich, das in jeder Form und Farbe einen Abglanz seiner Selbst entdeckt. Ich gehe trotzdem zurück, gehe hunderte Meter zurück und schaue noch einmal.  Mir fällt auf, dass ich nichts sehe, wenn ich nach dem Sehen suche. Mir fällt auf, dass jede, noch so unvermeidbare Gefühlsregung mein Mehr-Sehen verhindert. Müdigkeit, Enthusiasmus, Beschwingtheit, Traurigkeit; ich sehne mich nach einem Sehen, das mir unmöglich ist. Eigentlich, denke ich, müsste man sehen, wie eine Maschine, die ein Bewusstsein hat. Kameras wurde ein solches Bewusstsein einmal zugeschrieben. Jean Epstein nannte es Photogénie. Man könnte also nicht mit den Augen durch das Mikroskop, sondern als Mikroskop schauen. Die Winzigkeit oder Ferne, die Genauigkeit, die nichts verstehen will, sondern nur festhält, ohne zu besitzen, die sieht, was vor die Linse kommt, unvoreingenommen, kalt, frei. Eine seltsame Vorstellung. Und schon bin ich wieder hunderte Meter gegangen und habe nichts gesehen. Um Steine unter dem Mikroskop zu betrachten, schleift man dünnste Plättchen, dünner als ein Haar. Bis zur Durchsichtigkeit. Im Peridotit unter dem Mikroskop fließen Lichtströme, die nichts bedeuten. Man möchte sie mit Adjektiven versehen, man möchte ausrufen: Schön, bezaubernd, überwältigend! Aber das sind nur Hilfswörter, die einer erfühlten Ohnmacht Eindeutigkeit andichten. Man müsste so sehen, wie das Licht, das durch diesen Dünnschliff bricht. Aber das Licht ist gierig, unstillbar, es endet erst mit dem Sehen, das Sehen endet mit dem Ende des Lichts. Man müsste ohne Licht sehen, das Sehen müsste ein eigenes Licht werden, nicht im religiösen Sinn, sondern im Weltlichen.

Man müsste sehen können, wie ein Glühwürmchen leuchtet. Diese Menschen aber sehen ein Glühwürmchen und dann rufen sie: Schau, schau, hier hier. Sie sagen: Das ist ein Glühwürmchen. Sie fangen das Glühwürmchen mit ihren Händen aus der Luft. Sie erzählen, dass die Glühwürmchen leuchten, wenn sie nach Partnern suchen. Sie vergleichen Glühwürmchen mit LED-Lampen. Sie fotografieren Glühwürmchen unter einem Mikroskop und lernen über die Verdauung. Sie deuten mit ihren Finger auf das Licht im Gebüsch. Sie glauben, dass es ein Zeichen ist, dass sie ein Glühwürmchen gesehen haben. Sie ignorieren das Glühwürmchen, weil sie es aus ihren Autos gar nicht sehen können. Kinder jagen die Glühwürmchen, sie packen sie in ein Glas, damit es immer leuchtet. Die Kinder wollen, dass das Leuchten niemals endet. Dann werden sie erwachsen und vergessen das Glühwürmchen im Glas und wenn sie das Glas aus ihrem alten Versteck hervorholen, leuchtet da nichts mehr, sie erkennen nicht mal mehr, dass da ein verendetes Glühwürmchen liegt und füllen das Glas mit Steinen, Gras oder Marmelade. Unter dem Mikroskop sieht der verstaubte Rest des Glühwürmchens aus wie ein verschrumpelter Apfel. Zig Falten schieben sich ineinander, ein lamellengleiches Gebilde durchsichtiger Äderchen, von denen manche leicht rötliche Färbungen aufweisen, die fast an das ehemalige Leuchten erinnern, wäre da nicht diese allumfassende Ermattung und Schlaffheit, die Verwesung, die einem mitteilt, dass es nichts mehr zu sehen gibt. Es gibt nichts mehr zu sehen. Alles ist besetzt, vertrocknet, ausgesaugt. Alles ist verschwunden, ausgestorben, weggelaufen. Alles wurde schon gesehen von diesen Menschen und alles was bleibt, ist anders zu sehen, aber wenn man anders sieht, dann stellt man fest, dass das, was schon gesehen wurde, verloren ist.

Der Hunger Mehr-zu-Sehen ist eine Illusion. Auch ich habe nichts gesehen außer Bilder vor meinem inneren Auge und die sich zusammensetzenden und wieder entwirrenden Buchstaben auf meinem Papier und dann auf meinem Bildschirm. Alles schiebt sich ineinander und bleibt doch in erstickender Ordnung, eine Symmetrie, die der Oberfläche des Steins und dem Kadaver des Glühwürmchens fremd ist. Wenn ich meine Worte unter einem Mikroskop betrachte, ist da nur schwarze Tinte, sauber verteilte Flüssigkeit, manchmal ein Klecks oder ein Schweißtropfen, aber kein Leben, das aus der Schrift selbst erkennbar ist. Eine erschreckende Monotonie, Zeile für Zeile, in jedem formlosen Wort, in dem jeder Buchstabe etwas bedeutet, ohne für sich selbst in Schönheit oder Freiheit existieren zu dürfen. Die Schrift ist verloren, die Sprache folgt ihr anstandslos. Trotzdem gehe ich noch einmal die hunderten Meter zurück, trotzdem setze ich mich hin und schreibe über das, was ich dann nicht gesehen habe. Ich denke, dass das am Hunger liegt. Der Hunger, den man auch Begehren nennen könnte. Er ist wahrscheinlich wichtiger als das Sehen. Er hält mich am Leben. Aber wie beim Adler manipuliert er das Sehen. Er funktionalisiert es. Man sieht, um den Hunger zu stillen. Aber er lässt sich nicht stillen. Also sieht man. Man sieht aber nicht. Man verhungert. Eine letzte Rettung: Einfach nur sehen. Nichts dazu sagen, nicht darüber schreiben, nichts vom Sehen wollen, den Hunger aushalten. So will ich es versuchen, zumindest für diese hunderten Meter.  

(für David Perrin)

         

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