Strich in der Landschaft I

Was strukturiert den Raum? Was bestimmt, wo die Wege verlaufen, wie öffnet und schließt sich die Landschaft? Versuch einer Systematik in Beobachtungen entlang der Temnitz.

1. Straße

Jede Straße verlängert die Zivilisation in die Landschaft, jede Autobahn die Stadt ins Unendliche. Berlin nach Hamburg, einsteigen, aussteigen, dazwischen Tapete. Die Welt wird zweidimensional, und eine Dimension davon ist immer nur ein Wald. Bald vielleicht eine Weide, die vorbeifliegt.

Im Wechsel der Perspektive, wenn also nicht das Land statisch mit hundertdreißig vorbeizieht, sondern die Autobahn ein monolitisch starres, genauso zweidimensionales Betonband ist, ist sie Hindernis. Zwingt zum Umweg, verhindert, dass dieses Feld Route sein kann. Die kürzeste Verbindung endet am Zaun, der alte Wege zerschneidet. Eingezäunt, überführt, unterführt, an keine Stelle berühren sich die Systeme. Die sich ausdehnende, in Teer sich endlos nach vorne, weiter auskotzende Stadt verdrängt, meidet die Dreidimensionalität, die Realität des Raumes hinter dem verwaschenen Immergleich von Baumstämmen. Nicht einmal eine Ausfahrt hier, zwischen Dabergotz und dem Autohof Herzsprung, nicht einmal einen kleinen Finger hält sie hin, die Stadt, dem Land entlang der Temnitz.

In Berlin gibt es eine Brücke, die heißt die Spinnerbrücke, im Grunewald spannt sie über die Autobahn. Spinnerbrücke, weil hier seit den 1920ern die Technikaffinen standen und die Autos beobachteten, die den neuen Avus entlang brausten, rauschhaft schnell, schnell wie sie das eben so konnten, 1923, 1924, unvorstellbar schnell also in einer Welt, die gerade erst Fliegen lernte. Nicht ganz ein Jahrhundert später stand ich dort und spann ja auch. Meine Klinik lag um die Ecke. Nachts schlichen wir uns kichernd raus und rauf auf die Brücke und schrien die Autos an, die noch immer über diesen Beton nach Berlin hineinschossen, und wir schrien und wir schrien und niemand hörte uns, wie ich heute hinter Katerbow stehe und hinunterblicke und manchmal dabei einfach wieder schreie, völlig unvorstellbar, dass uns jemand hörte, dass mich jemand hört. Denn da sind wir schon Teil der Tapete geworden.

Ausgerechnet im Wald, dann wiederum, wird sie plötzlich doch Teil der Landschaft, kein Fremdkörper: Wenn die Sonne nicht ausreicht, gibt sie Orientierung, zeigt verlässlich in ihrem unabänderlichen Rauschen, wo Osten ist, wo Westen, gibt, wenn ich fürchte, verloren zu gehen, die Gewissheit eines Zaunes, an dem man sich entlang hangeln könnte, bis Walsleben, bis Darsikow, und wer weiß, wir sprechen schließlich über Wege, auch bis nach Rom.

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