Mystagogie: Vorbemerkung. Wanderer

Gusto Gräser, ca. 1911. Quelle: gusto-gräser.info

In Neuruppin gibt es einen großen Wanderer, der sich auf seiner populärsten Darstellung, dem Denkmal am Fontaneplatz, allerdings als Ruhender darstellt. Das trifft die Leerstelle in Theodor Fontanes mehrbändigem Großwerk eigentlich auch ganz gut. Denn in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg‟ wird verwunderlicherweise – wenig gewandert. Kaum etwas ist von den Wegen zu erfahren. Allenfalls, dass sie beschwerlich sind, die Kutscher frech, die Gasthöfe teurer als erwartet etc.. Von den zweihundert Seiten, die der Stadt Neuruppin in meiner Ausgabe des ersten Bandes „Die Grafschaft Ruppin‟ gewidmet sind, entfallen nur wenige Zeilen auf den Weg, den Landstrich: Fontane erreicht die Stadt im Pferdewagen über eine „kahle, staubige Chaussee‟, noch der erste Landwein im Gasthof zum Deutschen Hause bekommt mehr Aufmerksamkeit, er gibt „Mut und Kraft, eine erste Promenade zu machen und dem Pflaster der Stadt zu trotzen.‟ Der große Wandersmann Fontane trägt, erfährt man, dünnsohlige Stiefel.

Natürlich habe ich mich in meinen Monaten hier auch Fontane gewidmet, es bleibt nicht aus, und auch mit Blick auf Nature Writing kann man den Wanderungen ja dennoch einiges abgewinnen. Zumindest, mit einer Perspektive, die die Verknüpfungen von der landschaftlichen Gemachtheit mit der Geschichte ihrer Bewohner*innen und ihrer ökonomischen und politischen Hierarchien in den Fokus nimmt. Ich schrieb z.B. für das Neuruppiner Reiseliteraturfestival „Neben der Spur‟ mit Fontane am Mythos Gentz – als eine Geschichte von der Umformung der Natur in Wustrau und auf dem Kahlenberge, von Torfabbau und Aufforstung. Und das hätte kaum geklappt, wäre Fontane wirklich ein Wanderer gewesen – und nicht ein Zuhörer. Der lieber ankam, sich einlud und herumführen ließ, in den Landsitzen, Pfarr- und Gutshäusern, statt einsam grüblerisch durch den Sand zu ziehen, immer im Rücken der Dörfer.

Trotzdem glaube ich, es ist gut, hier noch eine andere wandernde Gestalt einziehen zu lassen, der ich in den letzten Wochen noch ein paar Texte widmen will. Zwei eigentlich – Gusto Gräser begleitet mich schon in seinen Ambivalenzen einige Jahre, ich pendle zwischen Grundsympathie und Abneigung, fast Ekel, vor seinem narzisstischen Egoismus, mit der er seinem Umfeld das Leben zur Hölle machte, seinem subtilen Antisemitismus, seiner Abwertung der Welt, während er vom kosmologischen Urtraumgrundbund von allem mit allem schwärmte, in einer Sprache, die zwischen Szenen und Zeiten zu stehen scheint. Mein Buch „Die Diktatur der Wahrheit‟ widmete dem Dichter und Naturphilosophen, geboren 1879 im habsburgischen Kronstadt, heute Brașov in Rumänien, gestorben 1958 als wunderlicher Beinahe-Obdachloser im München, ein großes Kapitel. Er war ein früh wieder ausgestiegener Mitgründer der Lebensreformsiedlung Monte Verità in der Schweiz und, große Zweifel bleiben, möglicherweise Spiritus rector von Hermann Hesse, ein Hippie avant la lettre, zuhause auf den Straßen, vielleicht eine Zentralfigur der Weimarer Republik, vielleicht komplett randständig, es ist kaum zu rekonstruieren, nur angemessen für einen grundkonservativen, glorreichen Einzelgänger. Einen Forrest Gump der Lebensreform – Forrest heißt immerhin Wald, genau wie Gräser eben nach dem Gras heißt, das passt schon. Natur, Natur, schreiben wie er will man nicht, denken auch nicht, aber in meinem kommenden Text zur Lebensreformsiedlung Gildenhall muss Gräser natürlich auch auftauchen – oder besser, er will hinein, er sitzt zufällig mit den Edenianer und Freiwirtschaftsdenker Silvio Gesell im Knast am Ende der Münchner Räterepublik. Und wie das mit dem Ruppiner Land und dem Nature Writing zusammenhängt, wird noch offengelegt. Oder von mir ausgedacht. Wenn ich einmal ehrlich bin.

Gusto aber nur am Rande – die Figur, der Autor, der Wanderer, um den es eigentlich geht, in dessen Sinne ich noch einmal das Land an der Temnitz schreiben will, ist Hans Jürgen von der Wense. Gräser aus Siebenbürgen, Wense aus Ostpreußen, multikulturellen, multilingualen Kontaktzonen, beide verloren als Kinder den Vater, beide wandernd in der vom unausgesprochenem Trauma und Schuld geprägten Bundesrepublik, einem Land, das es nicht gab, als sie geboren wurden. In einem Deutschland, dass in ihrem Leben mehrere Transformationen durchlief, aber keine so radikal wie ihre Heimaten, die zu ihren späten Lebzeiten dann beide hinter dem neuen eisernen Vorhang lagen. Beide sind Künstler, Gräser akademisch ausgebildeter Maler, Wense Komponist. Beide sind in München, als die Räterepublik regiert. Beide ergehen sich bald in universalgelehrtem Dilettantismus, übersetzen beide fernöstliche Weisheiten, landen beide beim Taoismus, sind beide Einzelgänger, im Wortsinn. Das sind mehr als genug Parallelen, dennoch sind beide grundverschieden in ihren Lebensläufen. Und während bei Gräser die Natur als mystisches Wesen und verschmelzendes Gegenüber fast religiöse Bedeutung findet, ist es bei Wense vielmehr die Landschaft als konkretes Phänomen. Die Mystik liegt nicht irgendwo im Wald an sich, im Wald-Wald, sie liegt konkret im Papiermachergrund bei Dassel, auf dem Wiesenhochrand hinter dem Blocksberg bei Rossbach oder zwischen den Hainbuchen bei Lieseberg.

Wense, geboren 1894, stammt aus altem niedersächsischem Adel, nach dem Tod seines Vaters wächst er vor allem an der mecklenburgischen Ostseeküste um Rostock auf. 1914 studiert er kurz in Berlin, Philosophie und Rechtswissenschaft, bricht es ab, wird zum Militärdienst eingezogen, aber, zu schwächlich für die Front, nur in einem Schweriner Artillerie-Depot eingesetzt. In der Zeit beginnt er zu dichten und sich mit Komposition zu beschäftigen. Er veröffentlicht Gedichte in expressionistischen Zeitschriften und Musiktheorie. Er komponierte Atonale Musik – zum Beispiel für Blechsieb. Er trifft Clara Zetkin, F. W. Murnau und Paul Klee, findet mit der Bildhauerin Hedwig Jaenichen-Woermann eine Mäzenatin für die kommenden Jahrzehnte. Er ist der Bohèmien in der Großstadt. Aber noch ehe sie abhebt, noch ehe Weimar Weimar wird und Berlin Berlin, zieht er sich zurück – und bleibt dort, zurück und in sich, in den Dörfern und kleinen Städten am Rande. 1920 lebt er in Warnemünde, sammelt kaukasische Volkslieder und beginnt, das Wetter aufzuzeichnen, expressionistisch und exakt zugleich.

1921 hat er ein naturmystisches Erlebnis: über Warnemünde die Nordlichter. Ein neues Leben beginnt für ihn mit Studien zum Alten Ägypten und dem vorchristlichen Irland, er lernt Chinesisch, Suaheli und Syrisch. Die Zwanziger verbringt er mit neoprimitivistischen Kompositionen und Horoskopen, Übersetzungen von Liedern aus dem Pazifik und Westafrika und Mythen aus Südamerika, er lebt eine intensive schwule Liebesbeziehung und wird Kartograf. Wir wissen heute: Diese Zeit wird für ihn und für so viele andere am Rand der Gesellschaft zu Ende gehen, und die neue Zeit wird heiß und kalt. Es bleibt im Ungefähren, wie Wense das Deutschland im Faschismus erlebt und überlebt. Ins Exil geht er nicht, nicht einmal in ein Inneres. Verrät er Zwangsarbeiterinnen, um sich, den Gefährdeten, den Homosexuellen, entarteten Künstler, geheimen Universalgelehrten zu schützen? Wie das Christian Schulteisz 2020 in seinem Roman „Wense‟ suggeriert?

Wense wandert, und wer wandert, ist auch in einer Gesellschaft aus Stahl unauffindbar. Lange hat er keinen festen Wohnsitz, dann schlägt er sein Basislager in Kassel auf. Er wandert in Hessen, folgt dem Verlauf der Mittelgebirge, Eichsfeld, Vogelsberg, Westerwald, Lahn. 1943 wird er zum Kriegsersatzdienst eingezogen, zu den Physikalischen Werkstätten in Göttingen. Während er als Abteilungsleiter Radiosonden prüft, schreibt er weiter an seinem gigantischen Werk aus Natur und Mythos, komponiert er wieder Lieder, und wandert, wandert.

258 Messtischblätter, topographische Karten der Regionen, die er sich erwanderte, werden Teil seines Nachlasses sein, dazu 60.000 vollgeschriebene Seiten, tausende Fotografien, tausende Briefe. Und was darin steht: Meteorologie und Astrologie, Geologie und Geschichte. Keine Wissenschaft ist vor ihm sicher, kein Interessensgebiet, das nicht sein Interesse weckte. Ich schummle, mich auf seine Spuren zu machen: Ich muss nichts sammeln, es gibt Google, der Universalgelehrte ist heute einer, der die Suchstrings beherrscht, wie selbstverständlich stehen heute Volkslieder aus Nahost, französische Renaisancedichtung und Konfuzius, die Merowinger und Hochhäuser in Istanbul nebeneinander – und wie sehr greifend, dramatisch umgepolt muss ein Hirn danach suchen, das nur einen Brockhaus kennt, keine Links, dafür aber stets dem Auf und Ab eines Mittelgebirges folgt, das für mich, für die meisten von uns, das dümmstmögliche, gewöhnlichste Deutschland darstellt, nicht die mystische Ekstase, die Wense sich auf seinen insgesamt 40.000 Kilometer erwandert.

Wense als Mann seiner Zeit, natürlich, und das heißt auch, als Mann von gestern. Nichts gestriger als sein Anspruch, alles zu wissen, zu glauben, aus sich heraus das ganze Universum abbilden zu können. Unangenehm, seine Abwertungen zu lesen gegenüber den Menschen um ihn, die ihm zu gewöhnlich, zu ungebildet sind. Wie ein Querdenker mutet er an, ein Wort, das seinerzeit ein Kompliment war, heute eher Beschimpfung – natürlich schreibt er nicht von Schlafschafen, aber es klingt deutlich an, sein Glauben, etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Und vermutlich stimmt das auch ein bisschen. Lässt sich sein Blick erwandern, ohne so zu sein? Lässt sich Deutschland wirklich so rein als geologische Formation erschließen, mit einem geschichtlichen Horizont, der beim Mittelalter endet – allenfalls noch bei den großen Männern der Literaturgeschichte? Fehlt da nicht etwas? Wense ist hier der Anti-Fontane – wo der zu sehr in den Salons der abgehalfterten Landadligen verharrt, verharrt Wense zu lange auf den Wegen.

Faszinierend, seine Wanderungen vom Sommer 1945: Spurlos geht die Geschichte, die sich dieser Tage, als das ganze Land wandern muss, die Displaced Persons aus den Lagern genauso wie die früheren Nachbar*innen aus seiner Heimatstadt Ortelsburg, das jetzt Szczytno heißt, während Überlebende des Holocaust, die sich in ihre Heimatgegenden durchschlugen, in ihren Häusern auf Menschen treffen, die nun so tun, als wüssten sie nicht, was diese Nazis gewesen sein sollen, die angeblich das Land für ein paar Monate regierten – diese Geschichte scheint die Landschaft in Jühnde oder an der Alten Niedeck nicht zu tangieren. Ist das eine besonders kluge Perspektive – nicht die „Times‟ lesen, sondern die Ewigkeit, fordert Wense in einem Brief – oder eine lebensverachtende?

„Mystagogie‟ habe ich den Komplex genannt, einem Ausdruck Wenses folgend, der sich als „Mystagogen der Landschaft‟ sah. Oder so gesehen wurde, die Quelle schwer zu finden – vielleicht einfach eine Zuschreibung Ulrich Holbeins, zum Beispiel, eines seiner Nachfolger vielleicht, obwohl: Der schreibt und veröffentlicht ja, anders als Wense selbst, der nur schrieb, für sich oder in Briefen. Aber das Wort bleibt haften: Ein Mystagoge, das ist einer, der in die Mysterien einführt. Der Unterweiser in den Kult. Ein Wort, zwielichtig wie jede Utopie. Ein Mystagoge braucht Jünger*innen, und die sollten schon mystische Erfahrungen erlebt haben, die sie nun verstehen lernen müssen. Ein Mystagoge, ist das das Gegenteil von „Geheimnis des Glaubens‟ – oder ist das der, der an der entscheidenden Stelle sagt: „Geheimnis des Glaubens‟? Ich bin nun kein Mystagoge, darum die Mystagogie, also: Versuch, eine Landschaft als mystische Erfahrung zu erkennen und Hilfestellung zu geben, diese Mystik zu entschlüsseln, eher als Unterricht. Mir fällt es schwer, Landschaft als Landschaft zu lesen, ohne die Spuren der Kultur. Mich darauf einzulassen, das ist das bisschen Mut, den ich hier mitbringe. Auch wenn es mir, das merke ich schon, kaum gelingen wird.

Wense macht es sich da leicht. Märchenwälder in Hessen, die hunderten Sagen im Harz, Deutschland geheimnisvoll, da in der Mitte. Die Prignitz dagegen: Selbst Wense empfindet, schreibt er, die märkischen Landschaften als langweilig. Was würde er sehen – etwa, wie Fontane, auch nur eine kahle, staubige Chaussee? Ich wandere und fahre Fahrrad durch das Land an der Temnitz, und versuche, eine Brille aufzusetzen, die nicht meine ist. Sie passt nicht, wie die Sprache nicht passt, aber genau darin liegt ein Reiz für mich, eine Möglichkeit, den Bruch – oder, um im Bild der Optik zu bleiben, die Brechung, die ich beim Lesen in meinem Verhältnis zu Wense spüre, auch erlebbar zu machen. Und die mir hilft, das zu schreiben, überhaupt. Es ist ein wenig altmodisch, ein wenig zu begeistert für die nassen Wiesen. Und wo sind hier überhaupt die fiebrigen Silhouetten morbider heiliger Berge, majestätischer als Himalaya, vergleichbar nur mit dem Gipfel des Ararat am Ende der Sintflut? „Erhabendster Lebenstag‟, empfindet Wense einmal bei einer Wanderung im Weserbergland. Diese Mystik bleibt mir fremd. Ich möchte sagen: Gottseidank.

Die Texte werden auf dem Blog veröffentlicht, auf der Instagram-Präsenz @temnitzkultur gibt es begleitende Fotografien, außerdem, um die verschiedenen Medien und Sammlungssysteme Wenses zu simulieren, kurze Notate dort in den Stories.

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