Sandstein

Ich habe mich immer gefragt, warum Finger manchmal sichtbare Abdrücke auf Gläsern hinterlassen und manchmal nicht. Als Kind bildete ich mir ein, dass ich gar keinen Fingerabdruck besäße, eine der Natur widersprechende Missbildung der Haut auf meinen Fingerkuppen, so sagte ich mir, würde mich zum perfekten Verbrechen inspirieren, ich könnte jeder noch so ausgeklügelten Spurensicherung entwischen, wäre wie nie da gewesen, ja das gefiel mir, ich gefiel mir als der, der nie da war.

Als ich unlängst an einem verregneten Septembertag in Neuruppin, einen kupfern aus dem nassen Gras auf dem Kirchplatz blinzelnden Sandstein aufklaubte, kehrten diese jugendlichen Phantasien mit einem mal in mein Leben zurück. Das Exemplar folgte nämlich exakt den gleichen Linien und Wölbungen, Hebungen und Senkungen, ja sogar farblichen Schattierungen wie mein Daumen. Kann es ein Zufall sein, dass sich ein Stein über Jahrhunderte derart formt? Auf dem Weg nach Hause musste ich mich mehrmals vergewissern, dass der Sandstein in meiner Hosentasche kein abgetrennter Finger war. Sofort erdichtete ich zahlreiche, recht hilflose Kriminalgeschichten, in denen ich wahlweise einen ungelösten Fall in der Fontanestadt (Titel: Mord unter dem Schinkeldenkmal) auflöste oder mir den Stein in einer komplexen Operation auf meinen Daumen nähte, um so unerkannt zu einem legendären Dieb aufzusteigen.

Aber wie im Körper dieses Sandsteins muss sich auch im Fall dieser ausgedachten Geschichten irgendwann die Spreu vom Weizen trennen. Nicht alles hält zusammen, manches verwittert, löst sich auf unter dem beständigen Druck der Gezeiten. Ideen verfestigen sich, aber nicht alle. Erst die Zeit entscheidet, was bleibt und geht. Zwischen den Zeilen verharren vielleicht noch Minerale und Körner, die eigentlich nicht zu diesem Gebilde gehören, aber die Natur ist gründlicher als jede Lektorin. Sie findet selbst das kleinste Korn, das ihrer Logik widerspricht. Die Welt ist Physik und Chemie, da zerfallen alle Trümmer in weitere Trümmer, die von Wind und Wasser über die Kontinente gespült werden und am Ende bleibt nur ein fingerkuppengoldenes Steinchen irgendwo im Gras liegen. Was sich zusammensetzt, verdankt seine Festigkeit dem Schlamm der Erde, dem in die Poren eintretenden Kalkspat und Gips, den großen evolutionären Zufällen, die entscheiden, was vom Wind verweht, was vom Wasser weggespült und was auf lange Zeit zementiert wird.

Mindestens zur Hälfte besteht ein solcher Stein aus Sand. Alles was uns von diesen Irrungen erzählt, sind verborgene Schichten, die das Zerriebene, Zerstreute, Zermahlene in sich bergen, wie der Umschlag eines Buches die Zweifel derer, die es geschrieben haben. Sicherlich beneidet der Sandstein das winzige Sandkorn ob dessen Freiheit. Gleichzeitig aber kann das Sandkorn nie mit Gewissheit sagen, wo es landet und ob es nicht doch tief unter der Erde versickert. Deshalb dürfte ihn auch der große Bauherr, unter dessen Augen ich den Stein fand, bevorzugt haben. Von meinen Kriminalphantasien muss ich ablassen. Die Natur bietet vielmehr Unbegreifliches, Unsichtbares und auch sie wird mich einst so behandeln, als wäre ich nie da gewesen.  

Vorheriger Beitrag
Steinnotizen: Porosität
Nächster Beitrag
Buchvorstellung „Entlang der Temnitz“
Menü