Ich und die Schwalben

 

Es ist meine Schuld. Ich habe die Scheibengardinen abgehängt. Sie hingen auf halber Höhe im Fenster, weiß, falsche Spitze, unten kleine Blümchen. Ich fand sie störend, ich fand sie kitschig, ich fand, dass die Sonne nicht richtig hereinscheinen kann, und Sonnenlicht ist in der kleinen Künstlerwohnung mit den niedrig angebrachten Fenstern rar gesät. Ich hing sie ab, legte sie in die Kommode in der Küche. Dann flog die Schwalbe dagegen.

Schwalben sind bedroht. Ihr Lebensraum wird immer kleiner. Das Nahrungsangebot wird durch Pestizide immer knapper, Feldwege, Einfahrten und Dorfplätze werden zubetoniert, keine Pfützen mehr für Schwalben um aus dem Lehm Nester zu bauen. Durch Hygieneanforderungen an Höfe und Betriebe, dass Viehställe und Scheunen geschlossen sein müssen, haben Schwalben keine Einflugmöglichkeit mehr und finden weniger Brutstätten.
Darsikow scheint jedoch ein guter Ort für Schwalben zu sein. Hier ist der einzige Weg durch das Dorf sandig, und häufig fahre ich durch tiefe Pfützen nach dem Regen. Abends sitze ich auf meiner Feuertreppe und beobachte sie in Gruppen Insekten jagen.

Ich las gerade „L’Etranger“ von Camus, und noch während ich mich fragte ob mich das Buch eigentlich langweilte oder nicht, gab es ein dumpfes „dock“-Geräusch am Fenster. Ich dachte sofort an einen Vogel. Ich stand auf, öffnete das Fenster. Unter mir, zwischen Haus und Blumenbeet, lag eine Schwalbe in verdrehter Position, öffnete den Schnabel als würde sie versuchen zu fiepen, aber kein Geräusch kam aus ihrer Kehle. Mir sprang das Herz bis zum Hals, und ohne zu wissen was ich mir davon versprach, rannte ich runter.

Ich setzte mich vorsichtig neben sie, die Brust hob und senkte sich schwer, die Augen hielt sie fest verschlossen, als würde sie ihr eigenes Leid nicht sehen wollen. Vorsichtig fasste ich mit meiner Hand unter den kleinen Körper und hob sie hoch.
Ich spürte noch einen letzten Atemzug, der Schnabel schloss sich ein letztes Mal, und dann hörte jede Bewegung in meiner Hand auf. Ich zitterte während ich mit meinem Zeigefinger langsam über das weiche Bauchgefieder streichelte. Ein bösartiges Insekt krabbelte zwischen den Federn umher, ich versuchte es wegzustreichen, aber es war sehr flach und wendig, es dauerte bis ich es endlich entfernt hatte. Die Katze kam vorbei und streichelte mir um die Beine, während ich immer noch sprachlos auf das kleine Tier starrte, der Körperwärme in meiner Hand nachspürend.
Ich scheuchte die Katze weg, legte die Schwalbe auf den Boden, zog die Flügel auseinander, strich darüber. Berührte die winzigen Greiffüße. Drehte den Körper um, sah mir die bläulichen Rückenfedern genau an. Aus ihrem Schnabel floss ein kleines bisschen Blut auf den Boden. Ich atmete tief. Und verwundert stellte ich fest, dass zwischen Bestürztheit und Aufregung ein Gedanke von Dankbarkeit mir in den Kopf sprang. Was für ein schönes Tier, wie wunderschön es sich so nah ansehen zu können, wie faszinierend die schwindende Körperwärme zu spüren.

Wie Makaber, dachte ich im nächsten Moment und verzog das Gesicht. War es nicht meine Schuld? Hatte ich nicht die Vorhänge abgehängt? Und hatte nicht ich auch vor ein paar Wochen einen Vogel überfahren? Das hatte mich auch schwer getroffen und nichts davon war schön. Ich hatte mir den Vogel nur von weiten angesehen. Und obwohl mich beim überfahren viel mehr Schuld traf, fühlte ich mich jetzt mehr davon betroffen und schuldig als damals.

„Schwalben sind nach § 44 Bundesnaturschutzgesetz geschützt! Das Zerstören von Schwalbennestern stellt deshalb eine Straftat dar – während, aber auch außerhalb der Brutzeit.“ Informiert mich NABU. Ist es eine Straftat Vorhänge abzuhängen? Und hätte es überhaupt geholfen, wenn ich sie nicht abgehängt hätte? Sie flog gegen den oberen teil des Fensters, dort wäre der Vorhang nicht gehangen.

Ich nahm die Schwalbe wieder in die Hand, ging zum Straßenrand und grub ein Loch mit einem Stock. Vorsichtig legte ich sie hinein und streichelte ihr noch einmal über das Bauchgefieder. Dann bedeckte ich sie mit Erde.

Am Fenster hinterbleibt ein halbdurchsichtiger, rötlicher Fleck, der langsam nach unten ausläuft. Am unteren Ende sammelt sich rötlich-orange das Blut. Ich betrachte ihn, während ich die kitschigen Vorhänge wieder aufhänge.

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