Mystagogie III – Garz, 26.10.2024

Manchmal schleicht sich die Struktur ja erst im Prozess ein. Und natürlich macht es Sinn, wie Wense seine Wanderungen zwischenzeitlich entlang der Flussläufe zu ordnen gedachte, auch meine Routen, zeitlich ja viel gedrängter, entlang des Wassers zu organisieren.

Die Temnitz fließt hinter Paalzow nach Gottberg, wo der Landwehrgraben sich von ihrem Lauf wieder löst. Sie fließt nach Wildberg, wo sie den alten Burgwall umströmt, und in einem weiten Bogen nach Rohrlack, das sie rechts liegen lässt, um sich dann hinter Garz ganz von den Dörfern des Ruppiner Landes zu trennen. Das erwandere ich mir nicht, ich bin Samstag losgefahren, es ist mein letzter in Katerbow, du bist zu Besuch und wir wollen frische Brötchen. Es ist nebelig, als wir ins Auto steigen, entlang der Gleise vor Walsleben paar Meter nur Sicht, mit 30 balancieren entlang der Panzerplatten, manchmal rutscht ein Reifen ab, dann muss man den Lenker fest halten und alles wieder ins Gleichgewicht denken.

Auf den Feldern die Spinnweben, ganz eingehüllt haben sie das Kanadische Berufskraut, das hier seit Sommer wächst. Wie es, lerne ich, immer wuchs, eine Pionierpflanze, so begierig, dass sie das erste war, was auf den grauen Trümmern, die die Zeit der Nazis hinterließ, wieder grün wucherte, Deutschland ein Meer von Staub und Katzenschweif. Die Fäden machen es sich selbst ähnlicher: Wie Katzenschweif sieht es auch so eingehüllt auch aus, und hinten, wo ich den Wald nur erahnen kann, verschwindet es sanft im Samt des Nebels.

Das Biobäckerdorf Rohrlack dann heute eine Westernstadt: Vor den Backsteinen der alten Wirtschaftsgebäude verschwinden die Figuren im Grau, schieben ihr Rad geradewegs ins Nichts, tauchen auf dem Friedhof vielleicht wieder auf als der große Jesus über dem Efeu. Nosferatustimmung.

In Garz, kurz darauf, klart es dann plötzlich auf. Du hast mein Handy mir aus der Hand gerissen, als du dich mir unterhaktest – wir parkten am Gutshaus, am Wohnturm der Burg, den ich mir so gerne noch anschauen wollte, picknickten dann an der Kirche, von der ich bei Fontane las, nur las, allerdings, wer darin liegt. Jetzt wundere ich mich über die blank geputzt Kreuze auf den Torsäulen in der Backsteinmauer, über die bunten Lutherrosen, gelb leuchtet der Rand und rot das Herz neben den weißen Blütenblättern. Die niedrigen Masten der Stromleitung. Die kleinen Fachwerkhäuser am Platz. Und da, wo wir vorbeischritten schon, das eine große, im Zerfall. Was das wohl kostet, fragst du dich über ein Haus an der Ecke zur Hauptstraße, es wirkt wie amputiert, die Treppe abgenommen, um die Landstraße in ihrem Lauf nicht zu stören. Zurück bleibt ein steinerner Rahmen, ein Passepartout-Fenster. Du notierst dir die Nummer des Verkäufers, ausgedruckt auf DIN-A4 ins Fenster gehängt.

Garz ist anders als Rohrlack, vielleicht weniger liebevoll, sicher weniger, was man „alternativ‟ nennt. Aber leichter als die Straendörfer, die wir passierten, Walsleben oder Wildberg. Wir sehen die Autos hinter den Toren und deuten Reichtum, gegenüber der Burg sitzen draußen Menschen, wie hinübergesetzt aus Berlin, wie also wir, ja auch, mieten die sich für das Wochenende ein? Namen auf Klingelschildern mit Adel. Eine Werbetafel, natürlich auch für Immobilien, mit großem QR-Code. Das Dorf häutet sich, schält sich neu heraus, als was? Investition, Wochenende, Alterssitz, als Teil einer neuen Region alternativer Ruralität? Die Luft ist klar, wir schauen auf das Vorderlaubenhaus, dessen Rosensträuche noch blühen und hinterm Holzzaun gelb die Bäume leuchten, folgen der Straße mit ihren alten Häusern.

In so Dörfern, sagst du, sehen so viele Häuser aus, als wären sie einmal was offizielles gewesen, wir können es nur einfach nicht mehr lesen. Nur die Bäckerei, hintendran Scheune wie überall, zweite Reihen, dahinter ein kleiner Friedhof und ein Mast für ein Storchennest. Unmotiviert davor zwei Mauerpassagen aus Steinzaun auf der Wiese. Und um die Laterne geschwungen rot-weißes Band.

Das Dorf endet auf einem Sandweg hinter einem Haus, das sich aus Schweden verirrt geben will – dann Reitplatz und Hügel und links das grüne baumbestandene Band der Temnitz. Rotdornstraße heißt der Weg bis hierher, ein Name wie aus einem Neubaugebiet, wie viel ehrwürdiger seine Fortsetzung jenseits der Kirche: der Luchdamm, seinen Sinn im Namen tragend! Der Temnitzweg endet nicht an der Temnitz. Der endet einfach im Gras, das noch feucht vom Nebel mir die Füße leckt. Hinter Gehölz und Gebüsch ein Altarm der Temnitz in breiter Rundung, nicht nachvollziehbar, was die späte Begradigung des Flusses hier wen hat gewinnen lassen, erst 1991 wurde die Temnitz hier ausgebaut. Der Teich, der zurückblieb ist grün vor Entengrütze, üppig wuchert es am Ufer, satt und lebendig, als könne das Wasser den Sommer noch eine Weile festhalten. Das Gegenteil vielleicht bewiesen durch ein Schild, das von der Revitalisierung des Altarmes kündet.

Im Schmettauschen Kartenwerk, in Auftrag gegeben von Friedrich II., zittert die Temnitz ganz fiebrig, und noch heute, vergleiche ich den Fluss mit den Betonkanälen des Westens, an denen ich groß geworden bin, in denen selbst der Gehlenbach im Wald vor unserer Haustür noch durch Zementplatten geführt wurde, scheint sie eigensinnig durch die Felder zu fließen, gebändigt zwar, aber nicht gezähmt. Es ist, als hätte man ihr, hätte sie sich vielleicht ja auch selbst die Ober- und Untertöne abgeschnitten, die Störelemente ihrer Melodie. Und doch scheint sie in ihrem Mäandern nie den geraden Weg zum Rhin zu suchen, immer wieder sogar einen Schritt zurück zu fließen, sich länger zu machen, indem sie sich beugt, zu klein für die großen Pläne. Unterm Netz der Stichgräben scheint die Temnitz zu entkommen.

Die Temnitz fließt herrlich sinnlos durch die Felder und macht nix außer zuwachsen, mit Brunnenkresse. Und am Ufer, das ich abgehe, ihrer Quelle entgegen, ganze Teppiche von Brennnesseln. Dort, fast dreißig Kilometer entfernt nun schon, am jungen Fluss, stehen sie hoch bis zum Kinn. Hier normalkurz nur, sie wachsen ungestört miteinander in weiche dichte Körper, die sich vor mich legen und manchmal durch meine Socken greifen. Dann juckt’s. Dahinter: Wasserminze. Schilf. Darüber: Sonne. Du derweil auf einer Bank geblieben. Wir uns wundern, warum sie nicht auch ein Schild trägt: Gefördert mit Mitteln der EU und des Landes Brandenburg. Sie simuliert Aussicht, spiegelt den Schlosspark auf der anderen Seite des Dorfs mit seinen Sichtachsen, der die Temnitz dort einfach okkupiert hat. Ein bisschen ausgegraben hat man den Fluss hier sogar, wie gemacht zu einer Stelle. Wer sitzt hier sonst, guckt über Wasser und Acker und kann sich bei jedem Auto fragen, ob’s ein E-Auto ist, so leise wie es sich da den Hügel hochschiebt, ehe es Garz links liegen lässt und weiter nach Vichel.

Ich greife mein Handy, um die Situation zu fotografieren und sehe, dass vorhin, als es mir aus der Hand flog und auf den Kieselweg, unbemerkt doch eine kleine Ecke vom Glas am Rande abbrach und splitterte. Und wie sich jetzt von dort aus, wie ein feines Delta, in Mäandern Risse ihren Weg durch das Display bahnen, fiebrig wie der Flusslauf einer Schmettauschen Karte.

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