Die Temnitz mündet zweimal in den gleichen Fluss.
Eigentlich stünde ihr allein deshalb doch einige globale Bedeutung zu, ein richtiges Delta, wie der Mekong, der Mississippi und der Nil, dabei reicht ihre Dominanz, sprächen Flüsse die Sprache der Berge, gerade einmal in den Fläming, wo ebenfalls eine Temnitz ihren Morast entwässert. Aber ganz anders: Überall ist sie als Graben ausgebaut, nicht einmal ihre Mündung in die Plane erreicht sie als sie selbst – sondern als Sandfurthgraben. Die nördliche Temnitz verdoppelt sich hingegen, der sich durch die Moore des Rhinluchs windende Tausendfüßler mit seinen Stichgräben teilt sich kurz vor dem Zufluss in den Rhinkanal.
Das wusste ich und doch nicht, als ich in Zootzen-Damm in die Straße Am Kanal einbog, hinter der ich die Mündung vermutete. Und auch nicht, dass die Straße links und rechts von Sumpf umgeben war, als wollte hier, im Abseits zwischen Temnitz und Rhinkanal, das Luch noch einmal beweisen, dass es noch existiert. Luchland heißt der naturräumliche Großraum, ein Begriff fast Tolkienischer Qualität. Hinter Bruchtal und dem Auenland könnte es liegen. In echt aber bloß zwischen Rathenow und Friesack. Eine andere Welt ja trotzdem, im Vergleich zur Abgeschiedenheit des Ruppiner Landes im Norden liegt hier im Havelland die Industrialisierung Berlins schon in der Luft.
Die Straße Am Kanal endet nach wenigen Metern an einem Tor, daneben eine Kohle-Lore, wie ich sie zuletzt in meiner saarländischen Heimat als Teil von Bergbaudenkmälern sah, dahinter Gleise, ein Andreaskreuz, Kisten von Ziegelsteinen – Wienerberger Poroton! Ich setze zurück. So dicht vor dem Ziel malmt mir der Kiefer.
Der Sumpf ist die Alte Temnitz, ein stehendes Gewässer. Dessen werde ich gewahr, als ich Minuten später von der anderen Seite des Kanals auf die Stelle schaue, wo sich Temnitz und Rhin berühren. Der fernste Punkt des Flusses von seiner Quelle, bloß ist die Temnitz längst kein Fluss mehr, ganz unbeteiligt liegt sie neben dem schnellen Wasser des Rhinkanals, ganz grün vor Entengrütze. Ein plötzlicher Bruch, hier Starre und Grütze, dort Fluss und Tempo. Plötzlich den Impuls, die Temnitz in den Arm zu nehmen, und ihr zu sagen: Trau dich, fließ doch einfach weiter, es wird schon gut ausgehen.
Aber die Temnitz kann ja gar nicht, die Temnitz ist abgespalten von ihrem Flussbett. Ein Rohr nur, zwölf Meter lang, liegt zwischen dem alten, lahmen Arm und dem schnellen Fluss des neuen Bettes, gegraben wann? „Wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts‟, sagt der Managementplan für das Fauna-Flora-Habitat.
Also wieder eine Wende mit dem roten Auto. Wieder der Quelle zugewandt, um zur Mündung zu kommen. Die Nase an Google Maps plattgedrückt. Der Weg zum Fluss ein Feldweg. Da, da stehen Häuser, da ist die Bushaltestelle, das, ja, das dürfte doch diese Mühle sein, siehst du. Blinker setzen, rauf auf die Wiese. Der alte Citroën schüttelt sich, der Boden schleift über die Grasnarbe. Ohne Servolenkung den Kuhlen ausweichen und dem Matsch. Rot leuchtet der Wald am Ende der Wiese. Kein Indian Summer, ein Disney-Herbst. Nach ein paar Hundert Metern fällt uns auf, dass wir zu früh abbogen. Nicht nur den Archivaren der Flussbegradigung, auch uns entzieht sich die Temnitz.
Der echte Weg zur echten Mündung beginnt dann kurz darauf breit und mit Asphalt, überdimensioniert beinahe liegt die Straße an der Allee, bereit für Lastwagen und Panzer. Wir fahren zügig. Staub wirbelt auf. Am Straßenrand die Pilze und gelb leuchtende Bäume. Die Goldene Stunde. Die Nase platt an Maps. Da hinten müsste einen Biegung, und sie kommt. Da dann auch ein Fluss, da dann auch der Fluss. Da dann die Temnitz. Wir sind gleich da.
Am letzten Wehr wirft die Temnitz Blasen. Kurz vor ihrem Ziel liegt Schaum auf dem Wasser. Als wäre die Temnitz die Ruhr oder die Rossel im Jahr 1985. Entlang der Straße schützen Bauzäune vorm rabiaten Fall der Mauer, vor der sich, im Wasser, eine zweite Mauer türmt, rostig wie Schnee im Februar. Das Brückengeländer selbst marode, nur der Wehrverschluss von monochromen Grau.
Der Sonne entgegen, fließt der Schaum friedlich durch das nun von Brunnenkresse und Entengrütze freie Flussbett. Das ist also die Temnitz: Erwachsen ist sie geworden, oder, nun, zumindest bereit, sich auf den Weg zu machen zur Nordsee. Fast stolz schaue ich vom Wehr ihren letzten Kilometer hinab. Ausgesucht blau ist der Himmel und wie er sich satt im Wasser spiegelt. Ich bin bereit, loszulassen.
Aber noch spazieren wir entlang der Äcker. Fahrspuren parallel zum Fluss. Schilf trennt uns vom Wasser, manchmal brechen wir durch. Ein Auto steht da vorne, Blätter liegen auf der Windschutzscheibe. Plötzlich Sorge, laut sprechen wir: Da liegt jetzt aber hoffentlich keiner drin, nein, das steht da doch nicht so lange, oder – da sehen wir schon den von uns genervten Angler.
Wo der alte Temnitz-Arm sich wegspreizt, abgegraben, zugeschüttet, notdürftig verrohrt, bleiben wir stehen. Totes Holz markiert den Weg über das unterirdische Stocken. Am neuen Bett hat jemand dort, wo sich Platz bietet, unter einem Busch, die Figur einer Cartoon-Maus gestellt, freundlich winkt sie niemand an.
Warum auf der großen Wiese zwischen der doppelten Temnitz dann Dixi-Klos stehen, eins abseits ganz rechts, zwei nebeneinander ganz links, kann ich mir auch nicht erklären.
Ein Spiel ist es vielleicht, denke ich längst, das Ende der Temnitz zu finden, und ich frage mich, ob das auch Rhein und Weichsel so geht: Im Gewirr von Wuchern und Gräben und Armen keinen Weg zu finden zur Mündung. Zumindest einmal noch muss ich also springen. Glaube ich. Du bleibst auf der Wiese stehen und schaust zu mir hinüber, wie ich mich durchs Unterholz schlage zum Graben, der da in die Temnitz mündet, der noch gequert werden muss, dort vorne muss es doch schon sein – da finde ich die Brücke. Die Brücke ist weggeknickt, schräg liegt sie da, aber noch immer doch von Ufer zu Ufer. Ein Brett fehlt, und ich bilde mir ein, sie wackelt, als ich meinen Mut zusammennehme. Was kann auch passieren? Na, viel, Beinbruch im Graben, der Temnitzschreiber verschollen. Passt du auf mich auf?
Aber sie hält, natürlich. Auf der anderen Seite wie Schlingpflanzen Gras und Büsche. Kein Weg nun mehr, sondern eine Weide, giftig gepflegt und eng umzäunt. Unter der Böschung ein blaues Band, Hinter mir eine grüne Wiese, über drei Bäumen geht pittoresk die Sonne auf den Untergang zu. Ich hangle mich am Rand entlang, einen Fuß schon im Hang, quetsche ich mich durch Äste und Stämme entlang, sammle Zecken und Spinnweben.
Und dann sehe ich sie. Ein furchtbares Ende, muss man so sagen, im spitzesten Winkel ist sie dann auf einmal ein anderes Gewässer. Einfach so. Kein Grollen und kein Fallen, kein Wirbeln, kein Singen, keine Strömung reißt fort und keine Massen prallen. Nicht einmal ein Deutsches Eck hat man der Temnitz gebaut, als man sie einfach umgebaut, ihre Mündung genommen und nun einfach hier versteckt hat, fernab, irgendwo im Nichts zwischen Dörfern und Landkreisen, wo dicke Straßen sonstwas transportieren und Dixi-Klos den Waldrand hüten.
Naja, denk ich mir, das war nun doch kein Abenteuer. Aber ich habe die Temnitz gesehen, ich habe die Temnitz gesehen, wie sie sich leise ergibt, einfach verschwindet, in genau das Ungewisse, das sie allen, die nicht an ihren Ufern gelebt haben, immer war. Ein Fluss wie tausende, Futter für die großen Ströme, Futter für Wikipedia-Nächte. Und trotzdem: Das war nun mein Fluss, die Temnitz, ihren Namen durfte ich borgen, solange ich hier gelebt habe. Und genauso unspektakulär wie die Temnitz plötzlich verschwindet, werde auch ich nun wieder hier fortgehen, von ihren, naja, Gestaden. Und so ist es vielleicht auch genau richtig, das genau dieser Text hier, der mit einem ungläubigen Blick auf ihr leises Ende im goldenen Herbst schaut, auch mein letzter Text von der Temnitz ist.