Steinnotizen: Lydit

Wir haben uns allerhand ausgedacht, was das Leben nach dem Tod betrifft. Schöne und grausame Phantasien von Himmel, Hölle und Wiedergeburt. Aber keine noch so verzweifelte Religion hätte sich jemals etwas so bezauberndes vorstellen können, wie das, was den im Meer schwimmenden Strahlentierchen nach ihrem Ableben widerfährt. Ihre jäh erstarrten, sternkugelförmigen Körper sinken, ja schweben ein ganzes Jahr lang bis zum Grund des Meeres hinab. Unwirklich schimmernde Opalskelette finden sich gefangen in einer endlosen Zeitlupe auf einer Reise durch die schönsten Dunkelheiten des Planeten. Das Meer umschließt sie behutsam, aber bestimmt. Irgendwann landen sie in jenem kilometertiefen Schlamm, in dem sich sonst nur Poseidon mit Ianeira vergnügt. Hier ist ihr Grab, der Friedhof der langsam Versunkenen. Sie schichten sich auf zu einem farblosen Schlick. Im Meeresschlamm entstehen Zähne, die aus dem Boden schnappen und Hämatit schlucken. Die verfestigten Skelette bilden eine schwarze Hülle.

Aus diesem Grab kommt der daumenbreite, wachsig glänzende, muschelig gebrochene, pechschwarze Stein, den ich in einem Wald nahe der Autobahn bei Netzeband aufklaubte. Es gibt sie also doch, die Wiederauferstehung!  Man muss nur 400 Millionen Jahre warten. Dann bedeckt das Liebesnest Poseidons mit einem Mal die Oberkruste und alles, was verborgen lag, kommt zum Vorschein.

Aber dieser Stein kann davon nicht mit Gewissheit berichten. Ich umschließe ihn mit meiner Hand und spüre seine scharfen Zacken. Ich rieche an ihm, aber meine Nase vernimmt nichts, was mehr als einige Minuten am Stein haftet, geschweige den tausende Jahre. Ich halte den Stein gegen meine Lippen und erfühle sein wellenartiges Relief, eine Art Miniatur der tektonischen Platten. Vielleicht, denke ich, diente der Stein einmal als Probierstein. Vor hunderten Jahren haben gierige Menschen mit ihren verdreckten Händen Gold durch Reiben auf Lydit geprüft. Oder er entkam aus einem der Steinbrüche. Oder ein Kind aus den Waldkarpaten hat den Stein, gelangweilt von der langen Autofahrt zur Ostsee, aus dem Fenster geworfen. Sicher ist nur, dass er vom Grund des Meeres stammt und manchmal, wenn er in meiner Hand schläft, von Schwärmen funkelnder Strahlentierchen träumt.  

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