Steinnotizen: Schubladen im Museum Neuruppin

Inhalt der eigentlich verschlossenen Schubladen eines Schranks mit Steinen und Fossilien im Museum Neuruppin

Schwarzschiefer, Tuffstein, Erbsenstein, Alabaster, Kalkstein, Basalt, Lamprophyr, Lava, Feuerstein, Feldspat, Flussspat, Quarz, Sandstein, Marmor, Grauspießglanz, Obsidian, Quarzkristall, Kupferkies und unzähliges Unbestimmtes. Schwefelgelbes, Zitronengelbes, Oraniengelbes, Weingelbes, Isabellgelbes, Honiggelbes, von der Zeit gefärbtes, seinen Glanz gegen die Zeit Verteidigendes. 

Muscheln, die nicht von Steinen zu unterscheiden sind, Schnecken (Bellerophon!), Seeigelfossilien, Drachenbäume und Farne aus vergangensten Jahrtausenden, Staub, in den Kratern der Steine ruhende Mottenleichen; ihre Flügel hängen in den Ritzen der versteinerten Welt. Alte Holzstücke, niemand weiß, wohin sie gehören. Tannennadeln („vom letzten Weihnachtsfest“, sagt die schmunzelnde Mitarbeiterin des Museums, die für mich die schweren Schubladen aus dem Schrank hebt und auf einen großen, weißen Tisch stellt, sodass ich sie in Augenschein nehmen kann.) 

Bevorzuge das Unbestimmte. Das, was keinen Namen hat. Steinbrösel, die meine weißen Handschuhe schwarzfärben, die den Tisch schwarzfärben, die alles schwarzfärben, was mit ihnen in Berührung kommt. Ein Konglomerat aus der Kiesgrube von Pritschöna, wo 1910 ein Skelett aus schnurkeramischer Kultur entdeckt werde. Das Konglomerat ist aus den 30er Jahren. Ich stelle mir vor, dass wer dort Steine geborgen hat, um mehr zu finden. Stelle mir vor, was das für Menschen waren, die Steine geborgen haben, um über die Welt zu erfahren. Wenn ich Schubladen öffne, hoffe ich unentwegt auf solche Funde, möchte selbst Skelette finden und vielleicht etwas, das dort bei oder zwischen oder in oder auf oder unter den Steinen vergessen wurde. 

Ich finde alte Kartonverpackungen, auf deren Rückseite in oftmals unleserlicher Schrift von den Steinen berichtet wird. Verwischte Tinte auf Zigarettenschachteln, Zigarrenschachteln, Pralinenschachteln, Kaffeeschachteln. Werbung für Kinderspielzeug, das Kind sieht nicht glücklich aus. Hansagelbes, Grüngelbes, Senfgelbes, Ockergelbes, Bernsteingraues. In Zeitungspapier eingewickelte Steine, Deutschland verliert gegen Belgien am 26. September 1954 im Stadion Roi Baudouin in Brüssel. Torschützen: Coppens und Anoul. Das Papier klebt förmlich am Gestein. Auch ich notiere mir Unleserliches, frage mich, wie man schreiben kann, wenn man einen Stein hält. 

In einer anderen Schublade eine Liste mit Besorgungen, Preisen. Auf manchen Steinen kleben Zettel mit Bezeichnungen. Manchmal sind diese Papierfetzen förmlich im Stein versunken, mit ihm verwachsen. Der Stein hat die Wörter verschluckt. Wörter, die ich mir einbilde zu lesen: Philipsia, Safur, brettgelb, Basilisk, Protzstein. 

Man bildet sich so manches ein, wenn man Steine sieht. Mancher sieht aus wie eine Bienenwabe, ein anderer wie mein Religionslehrer aus der 9. Klasse, der zu allem Überfluss auch noch Herr Steiner hieß. Ich sehe verbranntes Holz, eine Triangel, drei Feen, den Mond, einen Abdruck des Riesenrads im Wiener Prater, die Unendlichkeit. 

Dabei wird die Zeit doch stets festgehalten auf den unleserlichen Papieren, fast zwanghaft; Silur, Devon, Karbon, Paläogen, Neogen. Überlege kurz, den Stein in meiner Tasche unauffällig in die Schublade zu legen. Anthropozän. Aber wozu? 

Erwische mich dabei wie ich an Verlegtes und Verdrängtes denke, während ich die Steine mit meinen Handschuhen wende und betrachte. Alte Geschichten, in Schubladen gelegt und seither vergessen. Ein Stein erinnert mich an den roten Sand, den mir ein Mädchen, von dem ich überzeugt war, dass ich sie heiraten würde, in die Augen schleuderte. Wir waren 5 Jahre alt. Ich benenne die Steine: Proust, Pawlow und Freud. 

Dieser Schrank beherbergt eine Wunderkammer. Wir neigen dazu Waffen, Werkzeuge und dergleichen in Vitrinen zu stellen. Steine verstecken wir in Schubladen oder wir überlassen sie sich selbst. Ich frage mich, ob es wirklich wertvoller ist, unentwegt vom menschlichen Tun auf der Erde zu berichten statt von dem, was uns umgibt. Wir sind so voll vom Menschsein, es ödet mich an. Aber eigentlich bin ich auch froh, dass wir Steine nur selten auf Bühnen stellen. So bleiben sie unbeschmutzt, unbestimmt. 

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