Freitag, 24. Juni, 2022, Netzeband
Stand on this hill. This is Llaregyb Hill, old as the hills,
high, cool, and green, and from this small circle, of stones,
made not by druids but by Mrs Beynon’s Billy, you can see all
the town below you sleeping in the first of the dawn.
Aufführung von „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas im Rahmen des Theatersommers Netzeband. Das Stück wird seit 26 Jahren in der Gemeinde gespielt. In einem Gutspark. Schon der Weg zur „Bühne“ ist eine Reise in eine andere Welt (wahrscheinlich nur meine Empfindung als Gast hier, man muss aufpassen, nicht in die anödenden Vokabeln der Tourismusindustrie zu fallen; sich stattdessen die Wörter neu erarbeiten aus den Erfahrungen!).
Hinter einer alten Kirche geht man einen Hang hinab in den Park. Majestätische Bäume, in deren Schatten man sich unsichtbar wähnt, wie verschluckt. Arrogant wachsendes Rhododendron. Kaum Steine, denke ich zunächst. Dafür Mücken. Abertausende skrupellose Mücken. Ich zerschlage sie stumpfsinnig, bemühe mich aber freundlich dreinzuschauen, man will als Gast nicht negativ auffallen, selbst wenn man Mücken tötet. „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas wird in der Übersetzung Erich Frieds und in der Inszenierung Jürgen Heidenreichs als Synchrontheater mit überlebensgroßen Puppen gespielt.
Vor dem Eingang in den Parkwald stehen zwei Hütten. Sie markieren die Schwelle zu einer vielversprechenden Dunkelheit. Hinter den Holzbuden wächst alles dichter, die Wege verengen sich. In einer der Hütten erhält man Tickets und ein Öl gegen die Mücken. Man könne die Menschen nicht ohne Öl in den Wald lassen, sagt mit eine wissend lächelnde Frau mit der Selbstverständlichkeit, die nur jene besitzen, die sich mit einer Plage abgefunden haben. Ich reibe mir Öl mit naiver Zurückhaltung auf Nacken und Arme. In der anderen Hütte gibt es Zwiebelkuchen, Schmalzbrot und Wein. Ich werde allen vorgestellt und alle nicken freudig, wenn sie hören, dass ich mich mit Steinen befasse. Steine. Kennt man.
Weil wir schon früh da sind, darf ich den Künstlern dabei helfen, die Puppen in den Wald zu tragen. Sie stehen im historischen Treppenhaus des nur teilweise erhaltenen Gutshauses. Im dunstigen Halblicht, das durch die hohen Fenster in das Gebäude strömt, das bekannte Gefühl, dass diese auf Holzpfählen befestigten Puppen mit ihren Fratzen leben (das alles in der Nacht des 200. Todestag E.T.A. Hoffmanns). Sie sind schon länger hier als manche der Puppenspieler, die sie halten werden. Man sieht es ihnen an, aber das lässt sie gar noch archaischer erscheinen. Sie haben wirklich gelebt, ich sehe es ihnen an.
Ich erfahre, dass die meisten von ihnen aussortierte Kleidung der Dorfbewohner auf den 1990ern tragen. In ihnen also auch ein Stück Dorfgeschichte. Ich schleppe eine Puppe, ihre Körpermitte liegt auf meiner Schulter, ihr Kopf baumelt in der Luft, sodass ich mich gezwungen sehe, ihn mit der anderen Hand zu stützen. Ich trage die Puppe wie eine Katze, spreche sogar kurz mit ihr als mich niemand bemerkt. Leider merke ich mir nicht, welche der Figuren es ist. Ich spüre sofort das, was Puppenspieler als Beziehung zu ihrem Gegenstand beschreiben. Das Gewicht, der Geruch, die Stofflichkeit, das alles geht von diesem unbelebten Körper in meinen Körper über. Vielleicht kann ich hier doch was über die Sprache der Steine lernen?
Einige tragen einzelne Puppen über die Wiese, andere werden in einem puffenden Wagen in den Wald gefahren. Der Wald / die Bühne: Ich lege meine Puppe hinten neben die anderen. Jetzt sehen sie aus wie im Wald Begrabene, die nur darauf warten, erweckt zu werden. Jemand vergleicht die vor ihr liegenden Puppen mit Fotos. Alles muss in der richtigen Reihenfolge geschehen, alles muss synchronisiert werden. Die Puppen sind keineswegs zuverlässiger als andere Schauspieler. Manche von ihnen kommen zu spät, andere verpassen ihren Einsatz. Es ist an den in Schwarz gekleideten Puppenträgern, sie in der Reihe zu halten, ihnen nur das Leben zu gewähren, das es für „Unter den Milchwald“ braucht. Was für Geschichten die Puppen erzählen, wenn das Stück endet, ist eine andere Frage.
Leitern führen in die Wipfel der efeuumrankten Bäume. Rostige Rohre stecken im Boden, in ihnen werden die Puppen stehen. Das Bühnenbild ist – mit Ausnahme kleiner Bauten – Wald. Ich denke mir: so kann ich mir Theater vorstellen. Ein Ort, an dem etwas gespielt wird. Nicht die Wichtigkeit der Institution, die sich darüber stülpt. Nur der Ort, die Puppen, die Spieler, die gemeinsame Zeit und der Text.
Der Text! Thomas schreibt von der erträumten Ortschaft Llareggub und deren Bewohnern. Er beginnt mit den nächtlichen Fantasien und verbringt einen ganzen Tag zwischen den verlorenen Sehnsüchten, der fischigen Hoffnungslosigkeit, den geheimen Begehren, den dunklen Wünschen der Menschen, die in Llareggub leben und gelebt haben. Die Sprache ist dichter als der Wald. Ihr Rhythmus lässt mich bald allein zurück, obwohl ich unter Menschen bin. Ich gleite hinfort. Die anbrechende Nacht tut ihr übriges. Langsam entweichen die Puppen und dieser Wald in die Unwirklichkeit. So wüte, wüte doch, dass man das Licht dir umgebracht.
Größtenteils vor Jahren aufgenommene Stimmen ertönen und sprechen den Text. Wie Geister verheddern sie sich in den unsichtbaren Spinnweben zwischen den Bäumen. Sie füllen den Wald mit ihren Geschichten, ihrer Verzweiflung darüber, lebendig zu sein. Aus den Tiefen des Gestrüpps erscheinen die Figuren wie Motten, die vom Licht angezogen nicht anders können, als uns alles mitzuteilen. Auch das ist Theater, denke ich. Ein Licht, das dazu bringt, sich mitzuteilen.
Einmal zu Beginn beschreibt Thomas einen kleinen Hügel, auf dem einige Steine liegen. Von diesen Steinen aus, heißt es, könne man den ganzen Ort betrachten. Da möchte ich leben, denke ich mir. Bei diesen Steinen, von denen aus man alles sehen kann. Steine erscheinen oft als Randbemerkungen, als Fußnoten in der Literatur, aber auch im Alltag. Das ist ihr Glück. Von den Rändern sieht man bekanntlich besser.
„Carreg“ ist das walisische Wort für „Stein“. Ich hatte mir vorgenommen, am Ende solcher Blogeinträge immer auch einen Übersetzungsversuch zu wagen, sozusagen als Übung oder Überprüfung meines Fortschritts in der Sprache der Steine In diesem Fall aber hat Thomas bereits so gut übersetzt, dass ich lieber ein wenig von ihm lerne. Ich belasse seine Worte im Original, auch wenn mir sicher bin, dass die Steine nicht zwischen menschlichen Sprachen unterscheiden. Ich denke nur, dass ich aus dem Sprachrhythmus etwas lernen kann:
Time passes. Listen. Time passes.
Come closer now.
Only you can hear the houses sleeping in the streets in the
slow deep salt and silent black, bandaged night. Only you
can see, in the blinded bedrooms, the coms. and petticoats
over the chairs, the jugs and basins, the glasses of teeth,
Thou Shalt Not on the wall, and the yellowing dickybird-watching
pictures of the dead. Only you can hear and see, behind the
eyes of the sleepers, the movements and countries and mazes
and colours and dismays and rainbows and tunes and wishes
and flight and fall and despairs and big seas of their dreams.