Zwischen den Milchbäumen

Das erste Wort, das mir nach der Vorstellung des sogenannten Traditionsstücks des Theatersommers Netzeband einfällt: stimmig.

Die Stimmen selbst laufen vom Band, sind Aufnahmen, die fast so alt sind wie ich, genau wie die 53 überlebensgroßen Figuren. „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas wird seit 1996 in Netzeband gespielt. Im Wald, während die Sonne untergeht. Und dieses Setting ist nur eines der Elemente, die diesen Abend so stimmig macht.

Ganz so, wie Dylan Thomas mit seinen Wortneuschöpfungen eigenwillige Bilder schafft, strotzen auch die Puppen voller materieller Ideen. Ein Thomas-Wort besteht ja auch aus Halbworten, aus geradezu gegenständlichen Buchstaben und wird zu etwas Abstraktem zusammengesetzt. Auch die Puppenkostüme und -gesichter lassen die Zuschauenden entdecken, voller Freude lassen sich die einzelnen Bestandteile betrachten: Federn, Orgeltasten, Stoffe, Brüste, Materialien und Betonungen, Intentionen und Konfektionsgrößen.

Diese Sprache und Erzählweise besitzt eine Eigenwilligkeit gegen einen dramaturgischen Bogen und behauptet sich gerade über das Durchhalten, Ausharren, über das Breitflächige. Man muss es nicht als Bogen, sondern kann es als Querschnitt verstehen. Die untergehende Sonne steht im Gegensatz zum Rundgang durch die Stadt.

Und um die Eigenwilligkeit weiß dieser Text, der bedächtig und humorvoll seine Kreise zieht, der zwar mit Erwartungen bricht, aber den Hörenden immer auch wieder verspricht, dass es etwas wiederzuerkennen gibt, dass es eine Logik gibt, eine Gegend, durch die man sich bewegt, wenn auch keine Gerade. Diese Beharrlichkeit spiegelt sich in einer gewissen Statik wieder. Wenn die Puppen, immer mal wieder von den Spielenden fest in die Erde gesteckt, auf ihren nächsten Auftritt wartend — aber natürlich nicht wirklich wartend —, von Figuren zu Bühnenbild werden, ihre Länge eine unter vielen zwischen der Länge der Baumstämme ringsherum.

Da denke ich: Ist das nicht auch eine Strategie der Naturwahrnehmung? Das Einlassen aufs Atmosphärische, die Beobachtung der materiellen Details, gleichzeitig das Gesamtbild, der Sonnenuntergang und: viele, viele Jahre.

Informationen unter: https://netzeband-kultur.de/traditionsstueck-unter-dem-milchwald

Vorheriger Beitrag
Nietzsche und Pizza
Nächster Beitrag
Rasenmähen um die Kirche
Menü