Was strukturiert den Raum? Was bestimmt, wo die Wege verlaufen, wie öffnet und schließt sich die Landschaft? Versuch einer Systematik in Beobachtungen entlang der Temnitz.
2. Fluss
Was für eine schöne Utopie: vergessen, dass Flüsse Grenzen sind. Weil das ja auch hieße: zu vergessen, in der Haut eines Menschen zu stecken, der immer die eigenen Kategorien in die Natur hineindenkt, für den jede landschaftliche Anomalie in der internalisierten Steppe zugleich Umbrüche des Miteinanders markiert. Was für eine schöne Utopie: Flüsse jenseits des Menschlichen zu denken, das ihnen die Grenze überstülpt, das in ihnen nur die Grenze sehen kann, immer wieder, zwischen Ländern, Städten, Dörfern, und stattdessen ein anderes Denken einzunehmen, das von Welsen, Signalkrebsen oder Zuckermückenlarven etwa. Denken wie eine Mikroalge, wie ein Wassermolekül, wie das Natriumion aus einem Kristallgitter des Salzes, das ins Wasser gelöst auf die Nordsee zutreibt.
Selbst die Temnitz war einst Grenze. Wie sie da im Tal liegt, zwischen der Mühle und dem Gut. Aber was heißt schon: selbst die Temnitz? Einmal fuhr ich ja auch über den Rubikon und erst später einmal mit dem Finger über die Karte und erschrak: So ein großer Name, und so ein kleines Gewässer!
Von der Temnitzgrenze zeugt ein Zollhaus vor Netzeband: Exklave Mecklenburg-Schwerins in Preußen. Nicht gerade Westberlin in den Achtzigern, aber auch hier konnte man der Wehrpflicht, heißt es, entkommen. Während ich heute über die Brücke spaziere, die neue, dem alten Weg von Katerbow über den Gallberg folgend, frage ich mich, was sie wohl gemeinsam hatten, der preußische Deserteur und sein Urenkel, jener französische aus dem Chanson von Boris Vian. Und mit dem Sohn des letzteren, der es heute auch nicht besser weiß, jedenfalls, wenn er nur ungefähr so ist wie ich und meine Freund*innen, verwirrt ist von beiden Rhetoriken, des todesgierigen Militarismus wie des realitätsnegierenden Pazifismus. Aber da war ich schon über das langsame Ziehen der Temnitz hinüber, wieder einmal entkommen.