4. Graben
Am liebsten würde ich mich einen ganzen Tag in den Morast stellen, um zu spüren, wie Versinken geht – und mich am Ende am eigenen Schopf wieder herausziehen. Und dann zu lesen, vielleicht auch ein wenig angeekelt, natürlich, dass Nietzsche über meinen Nachmittag geschrieben hätte, das Verlangen nach einer „Freiheit des Willens‟, „das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausenschen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn.‟ Ich wäre gerne meine causa sui. Ach, das wäre ein schöner Tag.
Aber der Sumpf ist trockengelegt. Kein Schmatzen, kein Pfffscht, kein Schlnzzz. Der Burgwall von Netzeband, gebaut auf einer trockenen Insel in einem unzugänglichen, ausgedehnten Sumpfgebiet, wäre heute einfach zu überrennen. Als Fluchtburg völlig wertlos, nur noch Erde, nicht viel höher aufgeworfen als eine Sandburg, von allen Seiten zu bestürmen. Dabei doch: Entlang der Temnitz, lese ich in den hydrologischen Studien, die ich mir seit neuestem zu Gemüte führe, bis ich sie irgendwann verstehen werde – überall Moorboden. Den Boden des Gewässers bildet Torf aus Seggen und Röhricht. Niedermoore, Anmoore, Gleye bilden die Niederung.
Wo die Temnitz jung ist, ein paar Kilometer den Fluß aufwärts, bei Pfalzheim, fließt sie dunkel durch dunkle Erde, nicht allzu nah gestattet sie, heranzutreten, schon bleibt der Schuh stecken. Schmetterlinge sitzen auf den Gräsern, Brennnesseln küssen mich sanft ins Gesicht. Der Moorboden ist nicht einfach nur fruchtbar, ach was, es ist eine Explosion an Biomasse, die sich hier verschwenderisch entlang des Wasserkörpers ausbreitet. Die Temnitz, die Dunkle, gekleidet in grün in grün auf pechschwarzem Boden. Bei Rägelin staut ein Biberdamm den Fluss und bringt das ganze schöne Konzept von Natur und Kultur durcheinander: Fließen im Castoridozän.
An der alten Burg aber ist sie längst eingehegt, Arm eines vielarmigen Systems aus Kanälen und Gräben. Ein agrarisches Venedig, Wasserläufe, geschaffen zu entwässern. Das Wasser in den Gräben macht sichtbar, wie viel Wasser in der Erde steckt. Oder steckte, besser: Drainage, Aderlass. In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts erst wurden die Stichgräben angelegt und der Fluss seiner Mäander entledigt. Aber die trockenen Sumpfwiesen sind noch immer in Bewegung. Je mehr sie entwässern, desto mehr scheiden die Gräben Kohlenstoffstoffdioxid aus, das in den Moorböden seit Jahrhunderten gespeichert ist. Wie die Ausschläge auf einem CO2-Diagramm liegt nun ein Muster über der Landschaft, das vom Boden aus sich kaum erschließt. Da sind es nur tief eingeschnittene Linien, zu breit, darüber zu springen, zu lang, sie zu umgehen. Wie früher der stinkende Morast bestimmen sie heute in ihrer exakten cleanness, wo meine Wege enden.